Dsching, Dsching, Dschingis Khan
He Reiter – Ho Leute – He Reiter – Immer weiter!
Dsching, Dsching, Dschingis Khan
Auf Brüder! – Sauft Brüder! – Rauft Brüder! – Immer wieder!
Lasst noch Wodka holen (Ho, Ho, Ho, Ho, Ho)
Denn wir sind Mongolen (Ha, Ha, Ha, Ha, Ha)
Und der Teufel kriegt uns früh genug!
-Dschingis Kahn – Dschingis Kahn, 4. Platz, 1979 Deutschland
Es gibt viele gute Definitionen von Pop. Eine der schönsten stammt, wie ich finde, von mir: Pop ist ein Versprechen, bei dem es eigentlich gar nicht um Musik geht. Der Song Contest oder Grand Prix Eurovision de la Chanson hat zwar wenig mit Pop, dafür umso mehr mit Musik zu tun. Mit meist schlechter, manchmal sogar sehr schlechter Musik. Trotzdem teilen Song Contest und Pop ein Schicksal. Beide haben harte Jahre hinter sich. Doch während Pop sich scheinbar selbst aufaß, bewahrte den Songcontest bisher die eigene Ungenießbarkeit vor der Selbstverspeisung. Bange fragt man sich trotzdem: Wie konnte es so weit kommen?
Nostalgie ist bereits seit Mitte der 90er-Jahre nicht mehr das, was sie einmal war. Schon damals lag Pop überfressen und geschwächt am Boden. Neuerungen gab es kaum noch und immer öfter und ungenierter suchten Bands wie Produzenten ihr Heil in der Vergangenheit. Inmitten dieser Phase des kreativen Stillstandes ereigneten sich drei Dinge. Und alle drei erwischten die Musikindustrie am falschen Fuß: die Verbreitung des Internets, der Siegeszug des Musikdateiformats mp3 und, ein paar Jahre später, der Start der Videoplattform youtube.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts war die alte Ordnung zerschlagen. Ein neues Zeitalter nahm Gestalt an, nämlich die Ära der permanenten Gleichzeitigkeit, die Periode des ewigen Gestern, die Epoche des rasenden Stillstandes. Jede nur erdenkliche Inkarnation von Pop, quer durch alle Zeiten, quer durch alle Genres und quer durch alle Stile ist seither per Mausklick sofort abruf-, konsumier- und kopierbar. Selbst obskure Spezialinteressen werden anstaltslos bedient, egal ob norwegischer Grunzcore, japanische James-Brown-Imitationen oder finnische Minimal-Remixe von tschechoslowakischen Fernsehmelodien aus den 60er-Jahren. Das Internet, dieses gigantische popkulturelle Gratisfreudenhaus, hält für jede musikalische Perversion ein Séparée geöffnet. Und der Konsument? Der nimmt sich was er will, so lange er noch kann, obwohl er eigentlich gar nicht mehr mag. Die Künstler übrigens auch. Seit etwa 20 Jahren klingt daher nichts mehr radikal neu, seit rund zehn Jahren sogar alles wie schon immer. Das Ende der Popgeschichte war angebrochen. Nicht mit einem lauten Knall, sondern mit einem verführerischen Design-Ton, der den Smartphone-Nutzer davon unterrichtet, dass der Musikdownload bezahlt und abgeschlossen ist. John „Johnny Rotten“ Lydon, einer der ganze großen Solitäre der Popgeschichte, wusste es schon 1977: „Your future dream is a shopping scheme.“
Das voraussichtliche Ende von Pop hat auch den Song Contest verändert. Der Song Contest war traditionell eine schrullige, steife und gnadenlos langatmige Veranstaltung. Einmal pro Jahr trafen sich Bardinnen und Barden aus den entlegensten Ecken Europas im Sendessaal einer öffentlich-rechtlichen TV-Anstalt. Begleitet vom höflichen Applaus des Studiopublikums wurde dann um die Wette gesungen. In den jeweiligen Muttersprachen und unter Zuhilfenahme von opulenten Orchestern rangen die Anwesenden verbissen um die kontinentale Liedgutvorherrschaft. Die Stimmung erinnerte dabei mehr an eine Abrüstungskonferenz während des Kalten Krieges als an einen Schlagerabend. Das staatsmännische Getue ging dabei so weit, dass es teilweise ins unfreiwillig Komische abglitt. So hörte der Dirigent des österreichischen Orchesters etwas jahrelang ernsthaft auf den arg offiziell klingenden Namen Richard Oesterreicher.
Nach vielen qualvollen Stunden schließlich erfolgte die Zwölf-Punktevergabe. Zu diesem Behuf wurden nationale Expertenkomitees bestellt, die ihre gleichsam fachkundigen wie rätselhaften Bewertungen telefonisch in monotonen HAL 2000-Stimmen übermittelten. Zum Schluss trat dann noch Nicole auf und spielte „Ein bisschen Friede“ auf der Wandergitarre. Darauf folgten der Eurovisions-Abspann und das Testbild. Diese verklemmte Bauchkrampfrevue samt mathematischem Appendix war zwar belanglos bis zum Anschlag, entwickelte aber in ihrer spaßbefreiten Grimmigkeit einen spröden, verstörenden Charme. So erscheinen auch explizit fröhlich gemeinte Beiträge, wie etwa das weiter oben zitierte deutsche Beitrag von 1979, aus heutiger Sicht eher fremdartig als lustig.
Dann irgendwann in den lustigen 90er-Jahren passierte etwas Unappetitliches. Der Song Contest wurde mit dem Gift der Ironie injiziert. Am Anfang lachte der eine oder andere noch höflich mit, doch schon bald war dem geschmackssicheren Teil unter den Eurovisionisten klar: Was hier passiert ist – mit Verlaub! – Kot. Die schrullige alte Tante Song Contest mutiert zu einer schönheitsoperierten und schnapstrinkenden Ulknudel, die im Leopardenmini zu lautem Kirmestechno die Großraumdisko vollkotzt. Außerdem erlaubte eine Regeländerung, dass alle Teilnehmer auf Englisch singen dürfen, was zu einer dramatischen Einebnung der Vielfalt führte. Und zu allem Überdruss demokratisierte man den Entscheidungsprozess, entmachtete die Expertenjury und ließ fortan den fahnenschwenkenden Pöbel europaweit per Mobiltelefon mitwählen. „Breiter werden“ lautete das Marketing-Gebot der Stunde, und damit war nicht der Alkoholkonsum im Backstage-Bereich gemeint.
Die verbreiterte und so bis zur Unkenntlichkeit entstellte Veranstaltung ist inzwischen in der Mitte der Gesellschaft angekommen. Zur „herrlich verrückten“ Euro-Krawallmaschine mutiert sitzt sie dort gleichberechtigt und austauschbar neben anderen Prekariats-Narkotika wie dem „Dschungelcamp“, „Deutschland sucht den Superstar“ oder „Germany’s next Top Model“.
Von der traurigen Realität des „Kult-Events“, wie es in der Sprache der Ödmenschen so schön heißt, kann man sich persönlich ein Bild machen. Wer sowohl einen Fernseher als auch eine Nase sein Eigen nennt, kann heute Abend ersteren einschalten um anschließend zweitere zu rümpfen. Aber Vorsicht: Geschmackssicheren Personen könnte die verhaltensoriginelle Fast Food-Beschallung auf Ohren und Magen schlagen. Und dann geht es einem wie der Sängerin des Siegerliedes von 1982: „Wie eine Puppe, die keiner mehr mag, fühl ich mich an manchem Tag.“