Es ist still in Metropolis. Die Stadt schläft, nur ich bin wach. Eigentlich sollte ich einen Text schreiben. Aber ich sitze hinter meinem Schreibtisch und starre gedankenverloren in den Bildschirmschoner des klobigen Röhrenmonitors. Ich beobachte die animierten 3D-Rohre, wie sie per Zufallsgenerator am Bildschirm metastasieren. Da taucht eine Stimme in mir auf. Sie kreist in meinem Kopf wie eine Haifischflosse. Sie ist dunkel. Sie ist bedrohlich. Und sie flüsterte mir heiser ein paar merkwürdige Sätze zu: Du gehörst hier nicht her. Du bist im falschen Leben. Es gibt gar kein Internet. Und dann raunt die Stimme den merkwürdigsten Satz überhaupt: Donald Trump ist gar nicht US-Präsident.
Sind das kontrafaktische Wahnvorstellungen? Oder sind es doch Drogen? Schön wär’s. Das Schlimmste an der unheimlichen Stimme ist nicht einmal, dass sie mir bekannt vorkommt, sondern dass sie Recht hat. Vermutlich. Meine Hände zittern. Auf meiner Stirn bildet sich ein zarter Film. Was ich jetzt gleich sagen werden, mag verrückt klingen. Ich sage es trotzdem: Ich bin mir sicher, dass Donald Trump nicht US-Präsident sein kann.
Ja, ich weiß. Alle Medien quellen über mit Trump und seiner gespenstischen Präsidentschaft. Trotzdem. Meine Erinnerung ist total, will heißen wasserdicht. Nichts rinnt raus. Nichts rinnt rein. Ich weiß noch, als wäre es gestern gewesen. Es muss 1996 gewesen sein. Anstatt auf die Uni zu gehen, saß ich jeden Vormittag gebannt vor dem Fernsehgerät und schaute CNN. Ich sehe das Intro noch vor mir: Trial of the century. Eine weiße Schrift auf violettem Hintergrund. Dazu ein Jingle, der Dramatik evozieren soll. Auf der Anklagebank saß der bekannte amerikanische Unternehmer Donald Trump. Eine Mann Mitte 50 mit bösem Blick und böser Frisur. Seine zweite Frau Hillary war im Sommer davor nahe der Küste vor Atlantic City über Bord einer Luxusyacht gegangen. Offenbar nicht ganz freiwillig. Das zumindest behauptete der Staatsanwalt. Schnell hatten US-amerikanischen Medien Wort für die Affäre parat: Yachtgate. Ist er schuldig? Ist er unschuldig? Monatelang wurde über die Fragen gestritten und diskutiert. Es schien fast so, als besäße jeder Mensch auf diesem Planeten eine unverrückbare Meinung zu dem Fall.
Am Ende wurde Trump verurteilt. Nicht wegen Mordes, sondern nur wegen Totschlags. Trump bekam 23 Jahre, wenn ich mich richtig erinnere. Jahre später wurde er wegen guter Führung vorzeitig entlassen. War das 2009? Ja, das muss um 2009 gewesen sein. Dass Trump gerade mal sieben Jahre später als US-Präsident vereidigt wurde, ist eigentlich unmöglich. Habe ich das etwa alles nur geträumt? Und wenn ja, was genau? Den Prozess oder die Präsidentschaft? Oder vielleicht beides? Eines versteh ich nicht: Wenn man den Namen Donald Trump und Yachtgate in eine Suchmaschine reintippt, spuckt diese kein einziges brauchbares Ergebnis aus. Null. Niente. Es ist zum Haare raufen. Was will mir diese Realität weismachen? Dass auch die Mordprozesse gegen OJ Simpson und Larry King nie stattgefunden haben? Lächerlich.
Was bedeutet das? Bin ich zu lange wach? Schlafe ich? Oder lebe ich in einer Lüge? Bin ich verrückt? Oder wurden meine Erinnerungen tatsächlich manipuliert? Und wenn ja, warum und von wem? Von mir selbst vielleicht? Oder von einer alternativen Version von mir? Stamme ich vielleicht sogar aus einer parallelen Realität? Hat die unheimliche Stimme vielleicht recht und ich gehöre wirklich nicht hierher? Hat mich eine quantenmechanische Verwerfung unbemerkt in dieses Hier geschleudert, wo und wann auch immer dieses Hier sein mag? Bin ich das Opfer einer unfreiwilligen transdimensionalen Migration? Oder befinde ich mich vielleicht in einer komplexen Simulation? Und wenn ja, ist sie womöglich irreparabel beschädigt? Und wie viele Sätze kann ich am Stück schreiben, die mit einem Fragezeichen enden?
Dann ist da auch noch diese Sache mit dem Internet. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Aber das Internet erzeugt in mir ein Gefühl des Unbehagens. Ich erinnere mich sehr genau an eine Zeit, in der es das Netz noch nicht gab. Stattdessen gab es Sakkos mit Schulterpolstern, Schlaghosen und Münztelefone. Irgendwann war das Internet dann plötzlich da. Und zwar merkwürdigerweise seit Jahren. Die Zeit dazwischen liegt im Nebel. Der exakte Zeitpunkt des Aufschaltens ist nicht greifbar. Wann war das? Der Internet-Start erinnert mich an einen Traum, der nach dem Aufwachen real ist, aber in genau jenem Moment irreal wird, in dem man ihn festzuhalten versucht. Apropos irr und real: Wie wirklich ist eigentlich das Jahr 2019. Wie wirklich war 2018? Wann war überhaupt das letzte reale Jahr? Mein Bauch sagt 1999. Ja, 1999, das dürfte hinkommen, Pi mal Daumen.
Immer wenn ich an 1999 denke, denke ich an das Y2K-Problem, an die SoFi vom 11 August, an Matrix mit Keanu Reeves und an den Verhoeven-Skandalfilm „Golgotha“ , an das Empire States-Attentat, an die prominenten Todesfälle des Jahres: DeForest Kelley, Stanley Kubrick und Thomas Pynchon. Und natürlich an das fünfte Album von Nirvana. Wie sehr habe ich „Immortal“ geliebt. Den Song „Out of place“ habe ich damals rauf und runter gehört. Ist das wirklich schon 20 Jahre her? Wie hieß der Sänger noch mal? Ach ja, Kurt Cobain. Seine Lyrics von damals passen perfekt zu meiner aktuellen Stimmung. Gerade wechseln die Rohre am Bildschirm die Farbe. Aus grün wird violett. Ich singe den Refrain im Kopf mit. „I’m not like them / The human race / That’s why I feel out of place.“ Komisch, dass mir der Song ausgerechnet jetzt einfällt.
In diesem Moment stoße ich versehentlich an meiner Computermaus an. Die animierten Rohre verschwinden und das kalte Licht des offenen Word-Dokuments strahlt mir hart ins Gesicht. Ich schrecke hoch. Bis morgen muss ich noch diesen einen Artikel schreiben. Worum ging es da noch mal? Hinfort, ihr dunklen Anwandlungen! Weichet, ihr Büttel der Prokrastination! Parallelrealitäten? Wachtraum? Quantenschaum? Quatsch mit Sauce! Also ran an die Tasten! Aber nachher hole ich die MiniDisk aus dem Schrank und schiebe sie mal wieder in den Sony-Player. Da fällt mir ein: Von Nirvana hat man auch schon lange nichts gehört. Was wohl aus Kurt Cobain geworden ist? Vielleicht sollte ich den Namen schnell mal bei Alta Vista nachschauen. Nein, besser nicht. Denn eigentlich sollte ich einen Text schreiben.