In unregelmäßigen Abständen sehe ich mir Musikfilmchen an und schreibe dann ein paar flotte Zeilen dazu. Hier nun die ultimative Kollektion dieser melodischen Kleinodien. Manchmal ist der Song essentiell, manchmal völlig unbedeutend, manchmal erschütternd großartig, manchmal atemberaubend grauenvoll. Also: Auf den Songnamen oder Interpreten klicken, ansehen, zuhören, lesen und am Gelernten wachsen – oder zerbrechen.
Michael Holm – Smog in Frankfurt
Ich kann mir für 1970 keinen besseren Songtitel als „Smog in Frankfurt“ vorstellen. Für 2021 übrigens auch nicht – und ich verfüge über eine blühende Fantasie. Es ist Unterhaltungsmusik aus einer bleiernen Zeit. Der kalte Rauch färbt die Luft grau und der Schlagersänger Michael Holm wandert verloren durch die Ruinen von Mendocino. Es ist der Soundtrack zum kommenden Untergang. Deutscher Herbst, nuklearer Winter und übernächsten Sommer dann der Kältetod des Universums. Der unfreiwillige Visionär Holm ahnt: Es gibt keine Hoffnung. Denn das Leben geht niemals gut aus. Nur Tränen lügen nicht. Besser weil wahrhaftiger und fremdartiger wird deutschsprachige Musik nie wieder sein.
David Hasselhoff – The Passenger
OK, die Matrix ist schon seit einiger Zeit kaputt – siehe Corona. Aber zumindest ist die Simulation der Wirklichkeit inzwischen derart im Eimer, dass eh schon alles egal ist. Das ist aber halb so schlimm, denn der Zusammenbruch der angeblichen Realität macht teilweise richtig Spaß. Zum Beispiel gibt es jetzt eine David Hasselhoff-Coverversion von „The Passenger“. Vor lauter Entzückung schieß ich gleich eine ganze Packung blauer Pillen nach und warte gespannt auf den Release von „Looking for Freedom“ von Iggy Pop.
Andreas Gabalier – Liebe Leben (kein Link weil zu schlecht)
In der Popkultur gibt’s im Unterschied zur Temperatur keinen absoluten Nullpunkt. Nach unten geht immer noch was. Bestes Beispiel ist der neue Song von Gabalier, der von kulturfernen Medienmenschen trotzdem gefeiert wird. Wegen der „positiven Message“. Das erste, was ins Ohr sticht, ist die Stimme. Sie klingt ungesund. Gabba singt als würde er täglich zum Frühstück einen Sack Reißnägel mit Industriealkohol runterspülen. Dann die Optik: Die Tanzeinlagen im Video sehen aus wie ein schief gelaufener Exorzismus, bei dem es dem Teufel selbst irgendwann zu bunt wurde. Über die Lyrics hüllen wir besser den Mantel des Schweigens. Schlechter Tag, Themenverfehlung, oder Spätfolgen einer transorbitalen Lobotomie? Schwer zu sagen. Unterm Strich erinnert mich der Song an einen alten Stuhl – und ich rede nicht von einem Biedermeier-Sitzmöbel. Ach ja, die Anbiederung an die LGBTQ-Community ist durchsichtig wie eine Klarsichtfolie. Wer darauf reinfällt, bucht demnächst auch einen koscheren Kochkurs bei Attila Hildmann.
Was könnte schöner sein, als sich nach rund 450 Pandemietagen an einem verregneten Montagvormittag uralt zu fühlen. So ziemlich alles? Ja, sicher, aber man muss sich dem Weg alles Irdischen stellen, denn die Zeit ist nun mal das Feuer, in dem wir verbrennen. Die älteren unter uns müssen jetzt stark sein: Das grüne Album von Weezer ist am Samstag 20 Jahre alt geworden. 2001. Hach. Man hatte gerade erst den Y2K-Bug überlebt, die Welt erschien seltsam jung, das Internet auch, die Twin Towers standen noch, statt Corona gab’s BSE, Squash war noch ein Sport, polyphone Klingeltöne am Klapphandy der letzte Schrei, Napster war gerade im Untergang begriffen und YouTube noch nicht erfunden, sodass man das schnuckelige Hochzeitsvideo zu „Island in the Sun“ am Röhrenmonitor via ruckeligem RealPlayer bestaunen musste. Wer jetzt Wehmut verspürt, der klicke auf den Link. Er führt am Zeitstrahl zurück, den Kaninchenbau hinab und ins kalifornische Wunderland hinein, wo man das musikalische Antidepressivum direkt in die Venen gespritzt bekommt. Zehn Songs, zehn unbedingte Hits, zehn Portionen ungestrecktes Glück. Sind es wirklich schon 20 Jahre? Kann nicht sein, oder?
Culture Club – Do You Really Want To Hurt Me
„Do you really want to hurt me?“ ist einer der wichtigsten Popsongs meines Lebens. Und um einen großen Poptheoretiker (mich, Anm.) zu zitieren: Bei Pop geht es nicht um Musik, sondern um alles. Das trifft besonders deutlich auf die dritte Single von Boy Georges Band Culture Club zu. Die weiten Gewänder, die Schminke, der Hut, die Dreadlocks, der Lidschatten, der rätselhafte Blick. Boy George war eine Sphinx ohne Pyramide – und ohne Rätsel. Denn die Auflösung trug der Boy ja schon im Namen. Die damals noch einflußreiche Bravo stellte sich dumm und brachte eine schrille Coverstory mit dem aus heutiger Sicht behämmerten Titel: „Boy George von Culture Club gibt Rätsel auf: Tante oder Typ?“ 1983 war die Welt auch sprachlich noch eine völlig andere. Mit dem Begriff Tante war daher auch nicht nicht die Schwester der Mutter gemeint. Schon als Zehnjährigem war mir die Antwort auf die müde Provo-Frage relativ schnell klar: Völlig egal! Boy George war mehr als ein Popstar, Boy George war eine Idee. Eine Idee von der verwirrenden, weil fluiden Zauberkraft des Pop. Das Beste an Boy George war aber, dass diese Idee nicht zu stoppen war. Dazu war „Do you really want to hurt me?“ einfach zu hinreißend. Wer so einen Song im Gepäck hatte, konnte kein schlechter Mensch sein. Und vor allem: Wer sollte so jemanden wehtun wollen? Jetzt ist Boy George 60 Jahre alt. Er ist eine Legende. Eine Ikone. Eine schillernde Figur, die damals, in den frühen Achtzigern weit in die Zukunft wies. Er war ein Chamäleon, das die Phalanx der Homophobie mit der Kraft der Musik aufbrach. Er war und ist Karma.
France Gall – Ella elle l’a
Es gibt eine große Frage, die mich fast schon mein ganzes Leben lang begleitet. Doch die Antwort darauf ist scheu wie ein junges Reh. Jedesmal, wenn ich glaube, nach ihr greifen zu können, zerplatzt sie wie ein besonders schöner Traum, den man nach dem Aufwachen verzweifelt festzuhalten versucht. Egal wie lange mein irdisches Gastspiel noch andauert – ich werde den dornigen Pfad der Erleuchtung weiter beschreiten. Und eines Tages wird das Licht der Erkenntnis durch die Finsternis schneiden. Dann werde ich ich aus dem Gral trinken und die Antwort auf die letzte Frage erhalten: „Ella, elle l’a“ oder „Voyage, Voyage“?
Eine Stunde Musik aus der Pandemie-Ära zum Niederknien. Danach ist es gewiss: Am Ende wird alles gut. Orchestraler Rock ist normalerweise Musik zum Eierabschrecken. Weezer schaffen es aber, selbst ein nicht rehabilitierbares Horror-Genre in ein funkelndes Diadem zu verwandeln. Wem das alles trotzdem zu steil ist, der kann bis circa 39:30 vorspulen. Sagt man noch vorspulen? Egal. Dann überrollen Dich die Hits. Das majestätische Post-Grunge-Statement „Say It Ain’t So“ runtergebrochen auf Rivers Cuomos Glockenstimme und Akkustikgitarre, dann „Island In the Sun“ diese leichtfüßige Hymne für die Ewigkeit, die selbst ein Herz aus Stahl schmelzen lässt und jeden verlorenen Tag ansatzlos mit Licht flutet. „Africa“ natürlich, das superschmucke Toto-Cover und als krönender Abschluss „Buddy Holly“, ein epochendefinierendes Meisterwerk und lebensbejahender Zwilling von „Smells Like Teen Spirit“. Ich wünsche Euch, ihr findet mal jemanden , den ihr so liebt wie ich Weezer.
H & N – Flic Flac In Die Nacht
Über den Untergang des realen Sozialismus in den späten 80er-Jahren ist viel geschrieben worden. Ich darf dieser Geschichte ein buntes Schleifchen hinzufügen. Es soll zeigen, wie der Kommunismus den Kulturkampf gegen den Westen verloren hat. Mitte der 1980er-Jahre lag die DDR in ihren letzten Zügen. Als finale Verzweiflungstat wollte der sogenannte Arbeiter- und Bauernstaat die westliche Popkultur kopieren beziehungsweise assimilieren. Margot Honecker war aber nicht die Borg Queen und Ehegattengenosse Erich kannte Pop höchstens als Geräusch, wenn der Rötkäppchen-Korken wieder mal knallte. Die popkulturellen Bemühungen in der Sowjetzone waren ungefähr so erfolgreich wie das Reaktormanagement in Tschernobyl. Das beweisen eindrucksvoll H & N, zwei augenscheinlich mit Elektroschocks inszenierte Charisma-Kollapsare, die als müde Modern Talking-Klone für Mittellose versuchen, den absoluten Nullpunkt in Sachen Qualität nach unten zu durchbrechen. Wenn man das Bildmaterial heute sieht, fragt man sich, wie es den Tricktechnikern des deutschen Fernsehfunks damals gelungen ist, die Marionetten-Fäden bei den Holzpuppen unsichtbar zu machen. Aus jeder Faser dieser mutlosen Performance spricht die Resignation. Sie hat weder Herz noch Seele. You can win if you want? Von wegen! Die toten Augen von Karl-Marx-Stadt gehen durch ihre Emotionen und schreien stumm: Niederlage! Es ist die traurigste Performance der Welt. Kurz darauf fiel die Mauer. Prominente Zeitzeugen wie David Hasselhoff oder Klaus Meine werden später erzählen, dass Songs wie „I’ve been looking for Freedom“ oder „Wind of Change“ den Untergang angeblich beschleunigt haben. Das mag schon stimmen. Trotzdem behaupte ich: Die DDR hat sich selbst ein tödliches Gift namens Pop injiziert. Mit „Flic Flac in die Nacht“ brach die Moral. Es war der Anfang vom Ende.
The Weeknd – Save Your Tears
Harte Zeiten für die vorwiegend männliche Früher-war-alles-besser-Fraktion unter den Rock- und Popfans. Selbst Musik, die sich ganz offen bei den säulenheiligen 1980er-Jahren bedient, klingt heute oft besser als damals die „Originale“. Der kanadische Superstar The Weeknd spielt mit seinem 2020er-Song „Save Your Tears“ so ziemlich alles an die Wand, was circa 1986 erschienen ist. Und das ist nicht nix – immerhin war 1986 das Jahr (fast) ohne schlechten Popsong. Das Ding ist pure Perfektion und ein böser Ohwurm obendrein. Mehr Pop ist nicht möglich. Was für ein Song, was für ein Triumph!
Monitor – Mensch aus Glas
Irgendwann, wenn ich mal groß bin, schreibe ich vielleicht eine Kulturgeschichte des gläsernen Menschen im deutschsprachigen Pop der 1980er-Jahre. Nicht dass dieses Thema irgendwen außer mir interessieren würde, aber einer muss es schließlich machen. Als Buchcover verwende ich dann ein Foto der Band Monitor. Ich weiß so gut wie nichts über Monitor, außer dass sie 1984 Musik gemacht haben, die wie 1982 klingt. Das ist in etwa so, als hätte man um 1900 beim Patentamt vorgesprochen, um die Erfindung des Buchdrucks anzumelden. Doch zurück zum gläsernen Menschen: Der musste damals für gefühlt jeden achten Deutschrocksong herhalten. Die Angst vorm 8-Bit-Computerstaat ging um. Trotzdem klingt der ziemlich durchsichtige Text von „Mensch aus Glas“ nur aus heutiger Sicht nicht ganz bescheuert. Damals hat man betroffenheitsschwangere Technikkassandras zumeist mit der nassen Floppy Disk von der Provinzbühne gejagt. Meine Gedanken die kriegt ihr nie, deklamiert der Sänger trotzig und man denkt sich: Abwarten! 37 Jahre später bist Du wahrscheinlich freiwillig auf Social Media.
Katelruther Spatzen – An einem Morgen im April
Die Welt ist voller Wunder. Zum Beispiel habe ich kürzlich erfahren, dass es ein Lied der Kastelruther Spatzen über Tschernobyl gibt. Ich weiß nicht, was diese Information mit mir macht, ich weiß nur, das nichts mehr so sein wird wie zuvor. Fest steht nur, dass kein Werk der bekannten Kunstgeschichte verstörender ist. Die Lyrics strahlen hell wie reines Plutonium: „Auf einmal war die Amsel still. An diesem Morgen im April. Es war fast ein Tag wie jeder Tag . Doch es gab Tschernobyl.“ Dass das ganze im typischen Spatzen-Singsang daherkommt, macht es nicht weniger zugänglich. Der Song könnte genauso gut in Südtirol wie auf einem Gasriesen im Andromendanebel entstanden sein. Die Grenzen meiner Vorstellungskraft sind damit erreicht. Danach kann nichts mehr kommen. Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen hat mal, glaube ich, Terrance Hill gesagt. Das gilt auch hier. Also: Stille.
Sam Vance-Law -Eisbär
Jeder vernünftige Mensch, der sich länger als zwei Sekunden mit Popmusik beschäftigt hat, weiß, dass „Eisbär“ von der Schweizer Band Grauzone eine absolut unzerstörbare Großtat ist, die bis zum Kältetod des Universums Bestand haben wird. Die unterkühlte, hypnotische Fremdartigkeit des Songs fasziniert mich seit meiner Kindheit und hat mein Verständnis von Pop entscheidend geprägt. Der in Berlin lebende Kanadier Sam Vance-Law hat „Eisbär“ nun neu aufgenommen und ich bin begeistert. Denn es bestätigt wieder mal meine Theorie, wonach die deutsche Sprache im Pop immer dann besonders wirkungsvoll und interessant ist, wenn sie wie eine Fremdsprache gesungen wird.
Daft Punk – One More Time
Daft Punk waren für mich die Borg der Tanzmusik. Nicht nur wegen ihrer kollektiven und konsequenten Maschinenoptik, sondern vor allem weil jeder Widerstand zwecklos ist. Höre ich die ersten Takte von „One more time“, ist es bereits um mich geschehen. Ich beginne zu tanzen. Egal, wo ich bin. Der Track ist schwarze Magie und der Beweis, dass der freie Wille eine dreiste Lüge der Tanzmuffelmafia ist. Verdammt! Während ich diesen Satz schreibe, merke ich, dass mein rechter Fuß längst wippt. One more time they gonna celebr-e-ate…
Karel Gott – Rot und Schwarz
Was passiert wenn, wenn man einem Rollingstonessong alles wegnimmt, was an ihm rollingstoneshaft ist? Was passiert, wenn man einen Rollingstonessong von einem tschechischen Muttersprachler auf Deutsch singen lässt, ihn also durch die doppelte Entfremdungsmaschine jagt? Was passiet, wenn man Gott persönlich ran lässt? Richtig. Der Song wird endlich gut.
Peter Alexander- Schwarzes Gold
Cultural Appropriation aus der österreichischen Schlager-Vorhölle. Der nationalheilige Nachkriegs-Schwiegersohn Peter Alexander, biedert sich schamlos an den Ruhrpott an und singt treuherzig vom schwarzen Gold, das Millionen Jahre alt ist. In Wirklichkeit ging es ihm natürlich um die Kohle. Das westdeutsche Hitparadenpublikum stampft trotzdem artig mit, wenn der Wiener Gastarbeiter mit Stecktuch, Dreiteiler und Dackelblick vom Schicksalsschlag in der Zeche singt. Sogar Heck ist ganz weck. Wie berechnend der schamlose Charmeur dabei seine Stimme einsetzt, die sich genau im richtigen Moment eben nur fast tränenerstickt überschlägt, ist abstoßend und bewundernswert zugleich. Große Kunst tut eben manchmal weh. Auch wenn sie nur so tut als ob. Die Österreicher waren immer schon die Gebrauchtwagenhändler Europas und Peter Alexander war ihr langjähriger Innungsmeister. Es ist kein Zufall, dass ihm gerade die Menschen aus dem Volkswagennachbarland in Scharen auf den Leim gegangen sind. Aber wer konnte Peter Alexander schon böse sein? Ich sicher nicht.
Markus – Ich will Spass
Im Frühjahr 1982 spielte Markus Mörl noch in einer obskuren Neue-Welle-Band mit dem fantastischen Namen Nylon Euter. Aber inzwischen ist der Sommer da und die Konkursmasse des deutschsprachigen Punk wird von der Industrie endgültig zu Geld gemacht. Ab sofort ist alles egal. Erlaubt ist, was Spaß macht. Hauptsache die Kohle stimmt. Also wirft sich Mörl in die Schuluniform, hampelt vor einem irritierten ZDF-Hitparade-Publikum rum und schwenkt dazu feist grinsend Deutschlandfähnchen. Für ein paar verrückte Monate lang mutiert Markus daraufhin zu einer Art Teenie-Idol. Ein Rest an queerer Subversion bleibt, wenn er singt: „Der Tankwart ist mein bester Freund, hui wenn ich komm, wie der sich freut – er braucht Spaß.“ Als Kind habe ich natürlich nicht kapiert, worum es da geht. Die Single habe ich trotzden zum Geburtstag geschenkt bekommen. Auch wenn hier der kommende gesamtdeutsche Pop-Nationalismus sieben Jahre vor dem Mauerfall seine ersten unbeholfenen Gehversuche macht: So richtig böse kann man dem grellen Spektakel nicht sein. Zu rührend-dilletantisch erscheint es aus heutiger Sicht. 1982 war das Jahr vor dem Zusammenbruch, als für eine kurzen unschuldigen Moment noch alles möglich schien. In wenigen Monaten wird es in Sachen Pop dunkel werden in der BRD. Warum? Das kann man sich denken, wenn man das Video sieht. Zuspätgeborene können sich wahrscheinlich nicht vorstellen, wie riesig der Song damals war. Er war überall. Zu Unrecht? Sagen wir so: Die Zeile „Will nicht sparen, nicht vernünftig sein, tank nur das gute Super rein“ ist leider gut.
Spliff – Das Blech
Glanz und Elend von Pop gebündelt im Faszinosum Spliff. Die ehemalige Begleitband von Nina Hagen mit einem hinreißend-ulkigen Song zum Thema Jungendsprache ’82. Alles was an deutschsprachiger Popmusik jemals befremdlich und großartig war, wird hier in einem hanebüchenen Song so vorbildlich zusammengeführt, dass es eine Freude ist. Fast fliegt einem das Blech vor Entzückung weg. Nicht zu verachten ist auch die zackige Klemmi-Performance der Band. Sie schreit: Karohemd und Samenstau – er studiert Maschinenbau!
Hoffmann & Hoffmann – Ruecksicht
Als in den 1980er das Schlagwort vom „neuen Mann“ im Mainstream hochkam, wollte der musikalisch-industrielle Komplex in der BRD nicht hintanstehen. Plötzlich brachten Plattefirmen gefühlvolle Sozialpädagogen-Typen mit Mittelscheitelfrisuren, Schnurrbärten, Strickpullis, Umhängekeyboards und Wandergitarren an den Start. Das pastellfarbene Vertrauenslehrer-Duo Hoffman & Hoffmann schaffte es mit seinem beknackten Novelty-Song zum Thema „Wörter, in denen die Silbe ’sicht‘ vorkommt“ sogar 1983 bis zum Eurovision Song Contest, wo es aber prompt wieder ausgeschieden wurden. Dank seiner rücksichtsvollen Schmierigkeit konnte sich der Song bisher allen ironisch gebrochenen Wiederentdeckungsbemühungen entziehen. Wahre Kenner und Liebhaber von incredibly stranger Musik schätzen dieses missglückte Juwel westdeutscher Liedkunst natürlich vorbehaltlos. Da fällt mir ein: Was macht eigentlich der neue Mann heute?
Taylor Swift – exile
Taylor Swift ist die vielleicht größte Songwriterin des 21. Jahrhunderts. Wenn die historische Forschung in 300 Jahren auf das Seuchenjahr 2020 zurückblickt, wird sie zum Schluss kommen, dass damals wenig Gutes passiert ist, außer dass die Königin des Pop gleich zwei Platten veröffentlicht hat. Auf einem der beiden Alben, nämlich „folklore“, befindet sich „exile“ – ein hinreißendes Duett mit Justin Vernon, dem Sänger von Bon Iver. Der Song zeigt Swift am Höhepunkt ihrer Schaffenskraft. Eine Mann-Frau-Trennungsballade am Klavier muss man erst mal hinkriegen, ohne dass es gleich körperlich unangenehm wird. Bei Swift ist natürlich nichts unangenehm. Ganz im Gegenteil. Da stimmt alles. Vor allem textlich ist das ganz große Kunst. Justin Vernon klagt „You never gave no warning sign“ und Swift singt im selben Atemzug „I gave so many signs“. Man lauscht, man nickt, man fühlt. Seufz! Mehr kann Pop nicht erreichen.
Juliane Werding – Am Tag Als Conny Kramer Starb
Seid nicht wie Conny Kramer! Geht lieber nicht auf die Reise. Pfeift auf das Meer aus Licht und Farben. Macht stattdessen einen Bogen um die Drogen. Sonst bleiben Euch irgendwann auch nur die Blumen auf eurem Grab, oder so ähnlich. Ich liebe jede unbedarfte Wahnsinns-Zeile des besten aller Anti-Drogen-Songs. Wenn dieser incredibly strange Klassiker des evangelische Kirchentags-Sounds nicht auf meiner eigenen Beerdigung gespielt wird, gehe ich erst gar nicht hin.
Caterine Valente – Kismet
Als Kind in den frühen 1980ern dachte ich, Caterina Valente sei öde Revuemusik für alte Menschen, die bei Fernsehshows wie „Musik ist Trumpf“ wie ausgestopft im Publikum rumsaßen. Ein klassischer Irrtum. Caterina war eine großartige Künstlerin und ihr völlig zu Unrecht vergessener Song „Kismet“ gehört zum Besten, was in den 1960er-Jahren in deutscher Sprache auf Polyvinylchlorid gepresst wurde.
Dschinghis Khan – Hadschi Halef Omar
Aus meiner beliebten Reihe: Das große deutsche Popmissverständnis: Diesmal feucht-fröhliche Cultural Appropriation aus der westdeutschen Schlager-Vorhölle vorgetragen von der Ralph Siegel-Horde Dschingis Khan. Die Eurovisions-gestählten Fake-Mongolen tanzen und playbacken zu ihrem drittbekanntesten Hit „Hadschi Halef Omar“ bis die Schwarte kracht. Wo soll ich anfangen? Vielleicht mit zwei Fragen: Sollen die Kostüme der fünfköpfigen Horde die Thematik Karl Mays problematischer Blick auf die arabische Welt abbilden? Und wenn ja, warum sieht die Band dann aus wie eine krude Mischung aus den Village People, der weiblichen Hälfte von ABBA, den Vorstandsmitgliedern einer Faschingsgilde und ein paar hängengebliebenen Komparsen aus Flash Gordon, die allesamt auf eine Verkleidungsparty die falschen Drogen (Crack zb.) konsumiert haben und irgendwann mit halb aufgeblasenen Schlauchbooten auf der Dauerwelle aufgewacht sind? Man starrt das bizarre Spektakel an und versteht plötzlich, warum man die späten 70er-Jahre in der BRD einst als bleierne Zeit bezeichnet hat. Toller Song!
Adriano Celentano – Prisencolinensinainciusol
Zum Glück habt ihr mich. Denn ich kann euch eine Antwort auf eine Frage liefern, die euch sehr wahrscheinlich seit frühester Kindheit quält. Nennt mich den Erlöser. Die Frage lautet: Welcher Popsong hat den unverständlichsten Titel aller Zeiten? Die korrekte Antwort lautet: Prisencolinensinainciusol. Die Geschichte hinter dem Songtitel ist genauso gut wie der Song selbst: Adriano Celentano schrieb das Lied 1973 in einer Nonsens-Sprache, die vage ans Englische erinnern sollte. Er wollte damit, beweisen, dass in Italien alles ein Hit wird, so lange es nur Englisch klingt. Der Song wurde ein Hit. Ganz nebenbei erfand er den italienischen Sprechgesang und das obskure Subgenre des Kinky-Englischlehrer-Pop. Mehr Coolness ist nicht möglich. Und jetzt alle zusammen: Prisencolinensinainciusol ol rait!
Karl Dall – Der älteste Popper der Stadt
Ich sag’s gleich: Wer dieses TRAUMHAFT SCHÖNE VIDEO nicht uneingeschränkt liebt und das auch noch öffentlich zugibt, kommt sofort auf die Liste! Da hilft dann auch nicht mal mehr ein eingeschriebener Entschuldigungsbrief der Eltern! Es ist ein Jammer: Karl Dall ist tot. Sein Humor wird weiterleben wie eine Flunder am Meeresgrund. Adieu, Du ganz, ganz Großer! Das schreibe ich mit einem weinenden und einem hängenden Auge. Und nein, ich schäme mich für diese Pointe nicht!
Townes Van Zandt – Pancho & Lefty
Townes Van Zandt war eine tragische Figur der US-amerikanischen Musik. Ein verlorener Poet – obszön talentiert , aber auch von Dämonen geplagt. So sagt man drüben in der Neuen Welt merkwürdigerweise zu Drogen und Alkohol , als seien sie Fabelwesen aus einem Fantasyroman. „Pancho and Lefty“ ist eines der niederschmetternd-schönsten Songs, die je geschrieben wurde und der vielleicht beste Abgesang auf den Mythos Cowboy, den ich kenne. Zwei Banditen, Pancho und Lefty, träumen von einem Leben abseits des Gesetzes, träumen von der großen Freiheit. Am Ende ist Pancho tot. Verraten von Lefty, der sich von Schuldgefühlen geplagt in einer Absteige in Ohio zu Tode säuft. Überhaupt war die mexikanische Polizei nie richtig besorgt und hat die beiden eine Zeit lang gewähren lassen, bevor sie Lefty gekauft hat. And all the federales say: We could have had ‚em any day. Der Teufel schläft nicht, die Freiheit ist ein Holzweg, das Leben eine Lüge. Und wenn alles schief läuft, wird man am Ende noch ausgelacht.
Modern Talking – Cheri Cheri Lady
Was „Das Schloss“ von Franz Kafka für die Weltliteratur, ist „Cheri Cheri Lady“ von Modern Talking für das Genre Musikvideo. Ein psychoanalytisches Zauberlabyrinth, das nicht nur die engen Grenzen der Alltagsrealität, sondern obendrein die weiten Grenzen der Kunst sprengt. Ein schwarzer Monolith, der als missverstandenes Meisterwerk lange ein Schattendasein in der Forschung führen musste. Dabei hat die traumhafte Optik dieses Musikfilms die Populärkultur schlagartig verändert: ein Schloss, Glaskugeln auf Schachbrettern, Pyramiden hinter den Spiegeln und ein brennender Kontrabass. Mittendrin: der verlorene Mensch. David Lynch wird das vier Jahre später klauen und als Blaupause für Twin Peaks verwenden. Der Song selbst ist makelos. Hier wird das Genre Italo Disco zum Höhepunkt gebracht und konsequent zu Ende gedacht. Was bleibt? Schönheit, Androgynität, Kommerz, Leere. Über die katharsische Wucht der Bohlen’schen Texte muss man nicht viel sagen. Nur so viel: Bei „Cheri Cheri Lady“ befindet sich Dieter Bohlen am einsamen Höhepunkt seiner schriftstellerischen Kraft. Hier werden mit dem Stilmittel des experimentellen Falsett-Fantasie-Englisch große Wahrheiten gelassen ausgesprochen: „Cheri Cheri Lady – Going through emotions – Love is where you find it – Listen to your heart.“ Das sind Zeilen, aus denen ein künstlerischer Wagemut spricht, der die Fußfesseln der Zivilisation endgültig abgestreift hat. Der Song wird bleiben. Er ist Klassiker und Avantgarde zu gleich, er ist These und Antithese, er ist Alpha, er ist Omega.
Bon Jovi – Livin‘ on a prayer
Eines der schönsten Aspekte am Älterwerden ist, dass man die Dogmen der Jugend abstreift und die Zwänge der eigenen, popkulturellen Sozialisation zerschlägt. Mach kaputt, was Dich geformt hat! Schluss mit der Verklärung! Die Dinge werden endlich objektiv gewogen, gemessen und kartografiert. Zu Unrecht heilig gesprochene Kühe werden dem Schlachtschussapparat überantwortet und vermeintliche Schmuddelkinder rehabilitiert. In diesem Sinn schütte ich hier und jetzt einen Hügel auf, auf dessem Gipfel ich von nun an zu sterben bereit bin: „Livin‘ on Prayer“ von Bon Jovi ist ein besserer Song als alles, was Joy Division und New Order je aufgenommen haben.
Nena – 99 Red Balloons
Nena ist ein schwieriger Fall. „Nur geträumt“ war noch eine vergleichsweise pfiffige Kim Wilde-Überführung ins Deutsche. We’re the kids in West Germany, sozusagen. Danach wird es dunkel: Übler Deutschrock ala Westernhagen mit den Insignien der Reaktion (Schweißband, gestreifte Stretchhose, Rolling Stones-Shirt). Der einsame Tiefpunkt dann der friedensbewegte Weltuntergangs-Schunkler „99 Luftballons“ inklusive der vielleicht lächerlichsten Textzeile der 80er-Jahre: „99 Düsenflieger, jeder war ein großer Krieger, hielten sich für Captain Kirk, es gab ein großes Feuerwerk.“ So dumm, dass es weh tut. Das Elend wird in der US-Version dank Nenas haarsträubendem Fantasie-Englisch ein wenig abgefedert. Unterm Strich bleibt es trotzdem völlig inakzeptabel. Der Song wird heute übrigens noch gerne am Oktoberfest und auf Ü-40-Parties gespielt. Dort gehört er auch hin.
Donna Summer – I Feel Love
Langsam senkt sich die Nadel auf das schwarze Polyvinylchlorid. Ein kurzes Knistern züngelt aus den Lautsprechern. Dann beginnt der Moog zu brodeln und plötzlich ist der Beat da. Dieser Beat! Er packt Dich am Nacken und schleudert Dich gnadenlos in die Zukunft. Und das seit genau 40 Jahren. Zwei zeitreisende Aliens namens Giorgio Moroder und Donna Summer nehmen Dich mit auf einen fünfminütigen Raketenflug in den Vortex des permanenten Jetzt. Es ist eine Reise voll Sex, Drogen, Ekstase und Kontrollverlust Auch wenn man wir nun endgültig vorwirft, jedwede Objektivität am Altar der Übertreibung zu keulen: Würde man diesen rätselhaft-entrückten Pop-Monolithen von 1977 als wichtigsten Song aller – vor allem künftiger – Zeiten bezeichnen, wäre das fast schon eine dreiste Untertreibung. Hier beginnt alles. Grundgütiger, was mag wohl erst 1978 bringen?
Paola – Der Teufel und der junge Mann
Coverversionen sind ein weites Land. Es ist zumeist ein karger Kontinent, den zu bereisen eine monotone Angelegenheit voller geistiger Entbehrungen ist. Manchmal freilich stößt man auch in der Wüste auf eine Oase oder zumindest auf eine Fata Morgana. Von allen Trugbildern, die ich kenne, ist das hier eines der besten. Diese Coverversion ist nämlich auf vorbildliche Art versehentlich merkwürdig. Ich weiß nicht, welcher Teufel die Schweizer Schlagersängerin Paola Felix geritten hat, als sie beschloss, Johnny Cashs Klassiker „A Thing Called Love“ zum satanistischen Gleichnis umzupudern. Das Ergebnis klingt wie 100 Jahre Fegefeuer. Der deutsche Schlager als chaosmagisches Ritual made in heretic Helvetia. Oder wie die Eingeborenen sagen: Hopp Satan! Ob der Kinderchor nach Auftrittsende dem Lichtbringer geopfert wurde, ist leider nicht überliefert. Aber da das Video in den frühen 80ern aufgenommen wurde, müssen wir wohl davon ausgehen. Für alle, die das unpassend finden, eine kurze Frage zum Schluss: Verstehen Sie Spaß?
Creedence Clearwater Revival – Bad Moon Rising
Eine Band, von der heute seltsamerweise kaum noch wer spricht, ist Creedence Clearwater Revival. Liegt wahrscheinlich am unnötig-komplizierten Namen, der die vermeintlich simplen Songs der Gruppe unfreiwillig konterkariert. Ich sage bewusst vermeintlich, denn in ihrer vordergründigen Einfachheit steckt auch ihr kompositorischer Genius. Case in point: „Bad Moon Rising“ aus dem Jahr 1969. Erstens: Guter Titel. Zweitens: Das Lied ist tighter gespielt als fast alles, was ich kenne. Und drittens: Was für ein schaurig-schöner Text, in dem das Unheil an allen Ecken und Enden dräut. Kein Wunder, 1969 war das unerquickliche Jahr, in dem der Traum vom Sommer der Liebe in den USA endgültig zu Grabe getragen wurde. Der Song ist trotzdem ein zeitloser Gassenhauer. Die Schublade Gassenhauer wird heute zumeist abwertend verwendet, dieses musikalische Möbel ist aber mit Gold ausgekleidet. CCR waren die ungekrönten Kings der Gassenhauerei. Was Songwriter John Fogerty alleine hier in weniger als zweieinhalb Minuten reinkomponiert, ist mit dem Begriff Perfektion fast unzureichend beschrieben. Einmal gehört, nie mehr vergessen. Kaum ist der erste Riff erklungen, stampft man schon mit dem Fuß im Rhythmus mit. Ob man will oder nicht. Es ist wie bei den Borg: Widerstand ist zwecklos, wobei man fairerweise erwähnen sollte, dass die Borg besser Frisuren hatten als die Jungs von CCR.
Dolly Parton – I will always love you
In den späten 1970er-Jahren hatte ich mal die gleiche Frisur wie Dolly Parton in diesem Video. Okay, ich hatte damals dunkle Haare. Und sie waren kurz. Aber sonst war alles gleich. Apropos gleich: Gleich kommt wieder wer und sagt: Dieser unsterbliche Song ist doch von Whitney Houston! Ist er natürlich nicht, auch wenn mir das wieder mal niemand glaubt. Dazu ein hübsches Zitat von der großen Dolly Parton: „That’s fine, she can have the credit, I just want my cash.“ Übrigens: In Nashville erzählt man sich hinter vorgehaltener Hand die Legende, wonach Dolly „I will always love you“ und „Jolene“ an einem Tag geschrieben haben soll. Ich bin zwar nicht gläubig, aber das will ich glauben. Was für eine Gigantin!
Snap! – Rhythm is a Dancer
Wenn die Sonne ihre ersten Strahlen zögerlich durch die Fensterscheibe wirft, wenn sich die Augen langsam öffnen wie eine Puppe und der neue Tag wie ein Schmetterling schlüpft; wenn der Geist aufbricht, um die verschlungenen Pfade der Magie hinter sich zu lassen, dann kann es passieren, dass dich die Erkenntnis überfährt wie ein Zehn-Tonner. Einen solchen Moment der brutalen Klarheit und der gewaltsamen Erleuchtung hatte ich heute. Ich erwachte und wusste es plötzlich: „Rhythm is a dancer“ von Snap! ist einer der drei größten Pop-Songs, die je in Deutschland produziert worden sind.
Helge Schneider – Ich setz mein Herz bei Ebay rein
Der neue Song von Helge Schneider ist objektiv besser als alles, was Eure lächerlichen Lieblingsbands je aufgenommen haben. Egal ob Beatle, Rolling Stone oder Fool’s Garden. Keine Widerrede! Habt Ihr verstanden? Helge ist der größte deutsche Dichter seit Johann Sebastian Bach und der beste deutsche Komponist seit Friedrich Schiller. Lasst Euch ja nix anderes erzählen!
Weezer – Take On Me
Die großartigste, erstaunlichste, verehrungswürdigste, aber auch ärgerlichste und idiosynkratischste Band der vergangenen 25 Jahre hat überraschend ein Cover-Album gedropped, Die Rede ist von Weezer. Auf dem Tonträger spielt die kalifornische Legende rund um den erratischen Groß-Kauz Rivers Cuomo Songs von ELO, Michael Jackson, TLC, A-ha, Ben E. King und Black Sabbath nach. Eine eklektische Mischkulanz fürwahr. Die Optik der Covergestaltung ist entsprechend und sitzt wie ein malvenfarbener Blazer mit leger-aufgestrickten Ärmeln und wuchtigen Schulterpolstern: „The Teal Album“ – so heißt das Machwerk – klingt nur dann schrecklich, wenn man immer noch dem Irrtum aufsitzt, im Besitz einer Seele zu sein. Wer sich hiervon aber befreit und hinter die Spiegel zu blicken vermag, erkennt die epochale Bedeutung des Albums: Weezer haben mit „The Teal Album“ sowohl das Internet als auch das Pop-Business durchgespielt. Das Phänomen Rockmusik ist endgültig auserzählt und das Ende der Geschichte erreicht. War ja auch langsam Zeit. Ergriffen spüre ich, wie mich der Atem der Geschichte umweht. Dieser Moment ist eine Zäsur. Um ihm gerecht zu werden, lege ich noch mal feierlich die Installations-CD von Windows 95 ins Laufwerk. Auf dieser findet sich die unsterbliche Weezer-Großtat „Buddy Holly“. Der Song wurde damals aus Marketing-Zwecken serienmäßig vorinstalliert. Besser nicht zu viel darüber nachdenken. Mist, mein Laptop will diese CD-ROM nicht mehr abspielen! Sind es wirklicht schon 25 Jahre? Tausend Jahre sind ein Tag. In diesem Moment wird mir die eigene Vergänglichkeit bewusst. Schnell steige ich den Kaninchenbau hinab und flüchte mich in den Schoss der Ewigkeit. Dieser ist noch fruchtbar und aus ihm kriecht Weezer mit einer kunstvoll abgepausten Malen-nach-Zahlen-Version von „Take on me“. Das darf doch alles nicht wahr sein!
Soap & Skin – Voyage, Voyage
Das hier ist einer besten Songs der Zehnerjahre. Und bevor mich die Haarspalter-Fraktion bei der Pop-Polizei anzeigt: Ja, ich weiß. Das Original stammt nicht aus den Zehnerjahren. Na, und? Ich hab bereits als junger Stutzer, vor gefühlten 100 Jahren, zu dem Desireless-Song getanzt. Diese Coverversion ist trotzdem einer der großen Highlights der Dekade. Ich verneige mich vor Anja Plaschg. Sie ist die Königin. Als dieses wackelige Video aufgenommen wurde, saß ich im Wiener Konzertsaal und traute meinen Ohren nicht. Ich war wie vom Donner gerührt. Musik als Echo der Ewigkeit. Musik als Teilchenbeschleuniger der Ergriffenheit. Musik als transzendentales Ereignis. Last Train to Transcentral. Endstation. Alle aussteigen! Mehr Kunst ist beim besten Willen nicht möglich. Ich sag’s gleich: Wenn das nicht bei meiner Beerdigung gespielt wird, gehe ich erst gar nicht hin.
Peter Thomas Sound Orchester – Space Patrol (Raumpatrouille)
Wenn schon futuristische Klänge, dann bitte in monochrom. Flotte Rythmen für Zukunftsnostalgiker aus der Gründerzeit der bewaffneten Raumfahrt. Das klingt nach Wirtschaftswunder, nach Telenose-Strahlen, nach Kybernetik und nach außerplanetaren Angelegenheiten. Tanz den Rücksturz im Unterwasser-Casino! Da schwingt sogar Leutnant Tamara Jagellovsk vom Galaktischen Sicherheitsdienst kess das Tanzbein. Da lassen schon mal die schnellen Kampfverbände der Raumüberweichung fünf gerade sein. Zurück in die Zukunft mit New Astronautic Sound!
Andreas Dorau – Flaschenpfand
Der Flaschenpfand bezeichnet einen Geldbetrag, den man bei einem Getränkeanbieter für eine gekaufte Flasche hinterlässt und mit Rückgabe der Flasche zurückerhält. Soviel zum erkenntnistheoretischen Background dieses verschrobenen Meisterwerks. Der Song „Flaschenpfand“ von Andreas Dorau kreist also um die großen, ewigen Themen des Pop: Leergutrücknahme, Mehrweg, Warenkreislauf und Ressourcenschonung. Wer das Lied nicht kennt, sei gewarnt: Anhören auf eigene Gefahr! Denn der Refrain ist ein heimtückischer Ohrwurm, der den Wirtskörper befällt, um sich darin für immer einzunisten. Ein Gegenmittel gibt es nicht. Nur der Tod des Trägers bringt Erlösung. Es ist grausam: Man steht an der Bushaltestelle, an der Supermarkt-Kasse oder im Wartezimmer des Bewährungshelfers und ertappt sich dabei wie man halblaut singt: „8, 15, 25 Cent….“ Wie so oft bei Andreas Dorau gilt: In einer anderen, einer besseren Realität wäre das ein Welthit wie „Life is life“ oder „Wake Me Up Before You Go-Go“. Leider leben wir in dieser. Schade.
BBC Music – God Only Knows
In einer aus den Fugen geratenen Zeit ist es beruhigend zu wissen, dass es nicht einmal Chris Martin, Brian May und Dave Grohl mit vereinten Kräften schaffen, den besten Song aller Zeiten zu ruinieren. „God only knows“ ist und bleibt der unzerstörbarer schwarze Monolith der Popgeschichte.
Volker Lechtenbrink – Ich mag
Wer schon mal in meiner bescheidenen Hazienda zu Gast war, der weiß, dass ich spätestens nach der fünften Kartusche Industriealkohol dieses wohlgelittene Stück Polyvinylchlorid auf den Teller knalle. Dann spiele ich Volker Lechtenbrinks Hit „Ich mag“ von der Platte „Schon möglich“ und delektiere mich an der Reaktion der überrumpelten Besucherinnen und Besucher. Fremdscham, Entsetzen, Staunen, Ekel, Panik, Belustigung, Faszination, Liebe – oft alles auch gleichzeitig oder in unterschiedlichen Permutationen. „Ich mag“ ist einfach ein incredibly stranger Monolith der fehlenden Außensicht – und damit westdeutsche Populärmusik in ihrer wesenseigensten Ausprägung. Aber auch sonst ist ausnahmslos jedes Lied auf dieser zu Unrecht vergessenen Mikrorillenplatte eine hanebüchene Zumutung. Von der beschwingten Eisenbahn-Stalker-Hymne „Zugbekanntschaft“ über das gruselige Anti-Drogen-Seemannslied „Morticah“ bis hin zum wehmütigen Scheidungskind-Trennungs-Schunkler „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“. Hier jagt ein Totalaussetzer den nächsten. Hier funktioniert wirklich gar nichts. Ganz, ganz kleines Kino, das selbstredend in jede gut sortierte Sammlung gehört. Essential stuff!
REAL GEIZT – macht spAgat
Musik kann gar nichts. Außer in diesen dunklen Stunden ein paar Groschen Glück spenden und uns für zwei, drei Minuten aus der dreidimensionalen Enge der häuslichen Isolation befreien. Darum lade ich Euch auf eine sechsdimensionale Reise ein. Es geht den Kaninchenbau hinunter und dann hinein ins Wunderland! Als von allen guten wie schlechten Geistern befreiter Reiseleiter fungiert REAL GEIZT, das vielleicht letzte große Universalgenie und der wichtigste deutschsprachige Künstler seit Elvis Presley. Anschnallen, anklicken, anstarren und dann verdutzt fragen: Wenn Ihr Euch gedacht habt, dass diese Realität daneben ist, solltet ihr mal all die anderen sehen, etwa die von REAL GEIZT.
Jeff Lynne’s ELO – Telephone Line
Der Teufel Popmusik sucht die Menschheit in vielerlei Gestalt heim. Einmal als Herr der Fliegen, dann wieder als Blattverderber, oft als Lichtbringer und manchmal einfach nur als schlecht frisierte Sphinx ohne Rätsel. Wie in diesem hier verlinkten Musikfilm. An „Telephone Line“ von ELO ist bis auf eine Sache so ziemlich alles zweifelhaft: Der in Beton gegossene Dauerwellen-Helm von Jeff Lynn, die klebrig-laschen Keyboardklänge, die üble Stadion-Gigantomanie, die hochnotpeinliche Lasershow, das ulkige UFO über der Bühne, das an das MB-Spiel Senso aus den frühen 1980er-Jahren erinnert, die redundanten Streicherinnen und das abgeschunkelt-entrückte OK-Boomer-Publikum. Nur eben eine Sache ist nicht zweifelhaft, sondern erschütternd schön. Der Song selbst. Spätestens wenn dieser alles niedermähende, alles zermalmende Doo-Wop-Refrain ins Rollen gerät, ist Widerstand zwecklos. Dann zerbersten alle antrainierten Abwehrmechanismen wie Seifenblasen im Hagelgewitter. Dann zerfällt jeder kulturelle Dünkel in der Sekunde zu Staub. Dann hat der Teufel gesiegt. Was bleibt, ist ein überragender Song. Und er wird bleiben bis zum Kältetod des Universums.
Jetzt! – Wie es war
Die Band Jetzt! war immer ein bisschen das Bernsteinzimmer der deutschsprachigen Popmusik. Eine obskure Legende, die seit vielen Erdenläufen als verschollen galt. Vom Bernsteinzimmer gibt es eine originalgetreue Nachbildung, von Jetzt! gibt es sogar etwas noch Besseres, nämlich eine Blumfeld-Coverversion ihres Songs „Kommst Du mit in den Alltag?“. Hier hören die Gemeinsamkeiten aber auf. Während das Bernsteinzimmer verschwunden bleibt, ist Jetzt! In der Person von Sänger und Songwriter Michael Girke vor ein paar Monaten überraschend wieder aufgetaucht. Als ob das als Sensation noch nicht reichen würde, hat Girke auch noch den besten deutschsprachigen Song der Zehnerjahre geschrieben. Er heißt „Wie es war“ und dauerte ambitionierte 8 Minuten und 31 Sekunden. Wer sich vom hässlichen Wort „Erwachsenenpop“ und von einem fallstrickbehafteten Thema, nämlich Heimkehr an den Ort der Kindheit, nicht abschrecken lässt, wird hier reich beschenkt. Smarte Reflexion, schlanke Poesie und stille Klugheit hinterlegt mit sanft-treibenden Gitarren, die zwischendurch von einer scheuen Keyboard-Figur und von dezenten Streichern berührt werden. Ein schlichtes, ein elegantes Wunder, das leichtfüßig über den Abgrund tanzt.
Blümchen – Herz an Herz
Manchmal, wenn mein undurchsichtiges Tagwerk vollbracht ist, ziehe ich mich in meine Privatbibliothek zurück. Dort lasse ich mich dann mit einem gut gefüllten Cognacschwenker in der Hand in meinen englischen Ohrensessel aus Nappaleder fallen, lockere den doppelten Windsorknoten meiner seidenen Sommerkrawatte, nippe am mundgeblasenen Glas, gönne mir eine Messerspitze Morphium und genieße die wohltemperierten Klänge klassischer Musik. Oder höre Blümchen.
Die Ärzte – Grace Kelly
Grace Kelly von die Ärzte aus Berlin. Damals noch mit Sahni und ohne Rod. Da verzeiht man der Band vieles, was sie nach 1993 runtergenudelt hat. Ein Song wie eine kleine Schmuckschatulle vollgepackt mit Glück, die man als verträumter Backfisch irgendwann Ende der 1980er-Jahre rituell hinterm Schulhof vergraben hat, um den Inhalt für die Ewigkeit zu konservieren. Einmal pro Dekade zückt man Schatzkarte und Spaten und buddelt das Zierkästschen aus. Dann öffnet man behutsam den Deckel, reist am Zeitstrahl zurück und lässt sich exakt zwei Minuten und neunzehn Sekunden lang vom funkelnden Inhalt verzaubern. Anschließend überantwortet man das wohlgelittene Artefakt wieder dem Erdreich, schraubt die Airpods in die Gehörgänge zurück, klickt bei der Spotify-App auf das neue Album von Tyler the Creator oder Billie Eilish und freut sich darüber, dass man in der Zukunft zuhause ist.
Kurt Razelli feat. Matthias Strolz – Breaking The Rules
Pump Up das Bier trifft auf Eins, zwei Polizei im Ein-Euro-Shop. 1990er-Faschings-Techno irgendwo zwischen Schaumparty und Ausnüchterungszelle. Eine akustische Folter, die so unmenschlich ist, dass selbst Trump davor zurückschrecken würde, sie in Guantanamo bei Verhören einzusetzen. Daneben wirkt DJ Ötzi wie Brian Wilson, HP Baxxter wie Thomas Bernhard. Das einzige positive an diesem musikalischen Milzbrand ist die Tatsache, dass Matthias Strolz verspiegelte Sonnenbrillen trägt. So muss man dem Businesshemd-Raver wenigstens nicht auch noch in die Augen blicken. Wäre Fremdscham tödlich, müsste man dieses Video präventiv mit Blei beschweren und im Marianengraben versenken.
Weezer – High as a Kite
Was meldet mir meine Netzhaut? Es gibt neues Bild- und Tonmaterial von der weltbesten Band in ganz Kalifornien, nämlich von Weezer. Da steigen mir die Tränen des Glücks unter den Scheitel. Was soll ich sagen? Diese wahnmächtige Verschmelzung aus Beach Boys, elektronisch verzerrten Saiteninstrumenten, Drogenreferenzen und der Sesamstraße ist schöner als das Deckenfresko in der Sixtinischen Kapelle. Das schwöre ich bei allen schiefen Sprachbildern dieser Welt und bei Rivers Cuomos Kassabrille.
Talking Heads – Psycho Killer
Wenn schon unbedingt weiße Gitarrenmusik, dann bitte so. Vier junge Menschen, die diffus nach Latein-Olympiade, rhythmische Jazzmesse und Kosmos-Elektronikbaukasten riechen: Die Haare kurz oder zumindest halblang bis knapp über die Ohrläppchen geschnitten, die zugeknöpften, farblich zweifelhaften Poloshirts absichtlich eine Nummer zu klein gekauft und – ganz wichtig! – in die knapp sitzende Bundfaltenhose hinein gesteckt. Dazu scharfkantige Gitarren, die dem hypnotischen Bass höflich aber bestimmt zuarbeiten und ein Gesang, der die Frage nach dem Können unbeantwortet lässt. Der Text? Makulatur. Dafür aber eine Gestik, die in ihrem mechanischen Trotz sich selbst genügt, dabei aber stets stumm schreit: „Alles nur nicht Rockmusik!“ Gnadenlose Modernität also, die nur eine paradoxe Richtung kennt: in die Zukunft, die zugleich immer auch in der ewigen Gegenwart gefangen bleibt. Das sind die Talking Heads ab circa 1975: Früher war alles neuer!
Marlene Dietrich – Paff der Zauberdrachen
Ich wankelmütige Diva bin mir manchmal unsicher, wofür ich die von mir so verehrte Marlene Dietrich eher ermahnen würde, wäre sie heute noch 116-jährig am Leben. Dass sie mit John Wayne geschlafen hat, oder dass sie ein feuerspeiendes Fabelwesen mit einem windbetriebenen Sportgerät verwechselt hat. Der von ihr besungene Paff aus dem Peter, Paul & Mary-Originalsong ist doch ganz offensichtlich ein Drache und kein Drachen. Aber vielleicht stört auch nur mich sowas und mit sowas meine ich den etymologischen, nicht den sexuellen Fauxpas.
Dr. Feelgood – She does it right
Noch tragen die jungen Menschen im Publikum Schlaghosen und bescheuerte Frisuren. Doch es dräut die Revolution. Sie wird in wenigen Monaten alles Alte hinwegfegen. Am Vorabend von Punk werden die Haare kürzer, die Sakkos schnittiger und die Gitarren zackiger. Es ist 1975 und es riecht nach Kontrollverlust und Cola-Rot. Wer bremst, verliert. In die Zukunft mit Dr. Feelgood!
The KLF – Justified & Ancient
What the fuck is going on? Trommler, Tänzerinnen, Rapper, die JAMs, die Illuminaten, ein pinker Eis-Truck, knallbunte Kostüme, Einhörner, Euphorie, chaosmagische Rituale, rätselhafte Botschaften, ein gerüttelt Maß an Transzendenz, ein verstörender Subtext, der unverständlich bleibt, eine obszön-eingängige Melodie und natürlich die famose Tammy Wynette. Die Country-Legende hat sich wahrscheinlich in all den Jahren danach eine Frage gestellt: Was zur Hölle haben mich diese merkwürdigen Brits da eigentlich singen lassen? Letztgültig wird das wohl niemand je beantworten können. Als Trost bleibt ein Zauberlabyrinth namens The KLF, eine Handvoll Hits für die Ewigkeit und die Gewissheit, dass man die Gesamtheit des Seins in ein Musikvideo gießen kann. Pop music at its absolute peak. Ach, was! Art at it’s absolute peak. Ach, was! Life at it’s absolute peak. In the year of our lords 1991. Seltsam, aber so steht es geschrieben.
Floh De Cologne – Die Luft gehört Denen, die sie atmen
Immer, wenn mir wer erklären will, dass früher alles besser war, verweise ich auf dieses Video. Jeder halbwegs geschmackssichere Mensch, der diese sauertöpfische Scheußlichkeit länger als zwei Minuten anstarrt, entwickelt das unbändige Verlangen, eine Zeitmaschine zu konstruieren, mit dieser 46 Jahre zurückzureisen und die grimmig dreinblickenden und obendrein übel frisierten Genossen von ihren Instrumenten zu befreien. Deutscher Politrock aus den frühen 70ern. So klänge es in der Hölle, wenn es der Teufel ernst meinte.
Andreas Dorau – Girls in Love
1997 war ein interessantes Jahr. Das 21. Jahrhundert schien in weiter Ferne. Das Internet war noch neu, machte beim Einwählen komische Geräusche und wurde mühsam per Netscape Navigator besurft. Im Kino liefen künftige Klassiker wie Starship Troopers oder Austin Powers. Schöne junge Menschen trugen bunte T-Shirts auf denen sehr lustige Dinge standen wie „Vodka – Connecting People“ oder „Ego“, geschrieben wie der Lego-Schriftzug. Auf den WG-Partys standen noch Lavalampen rum und an den Wänden hing immer der selbe Poster mit Samuel L. Jackson und John Travolta aus Pulp Fiction. Und getanzt wurde auch, etwa zu Andreas Doraus famosen Doch-Nicht-Welthit „Girls In Love“, über den man sich zu später Stunde erzählte, man habe in der Spex gelesen, er sei zumindest in Frankreich kurz mal Nummer 1 gewesen.
Kanye West – Dark Fantasy
Trump, Brexit, Ibiza, Kim am Schimmel, Twitter, junge Männer mit Vollbärten, junge Frauen in merkwürdig geschnittenen Blue Jeans: Im Rückblick erscheinen die Zehnerjahre wie eine lange bipolare Störung der Realität. Womöglich hat der riesige Teilchenbeschleuniger am CERN um 2009 irgendein irreversibles Malheur auf Quantenebene angerichtet. Viel wahrscheinlicher aber erscheint mir, dass unsere Welt immer schon nur im Kopf von Kanye West existiert hat. Unbestritten ist zumindest eine Sache: Das beste Album der Dekade entsprang Kanye Wests Kopf. Es heißt „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ und erschien 2010. Ich erinnere mich noch genau. Nachdem ich es das erste Mal durchgehört hatte, war ich aufgewühlt wie ein frischer Maulwurfhügel. Benommen griff ich zu meinem Klapphandy, rief einen guten Freund an und erzählte ihm im Zustand der noch frischen Erschütterung, dass HipHop nun auch sein „Pet Sounds“ habe und der erste Song des Albums, nämlich „Dark Fantasy“, das „God Only Knows“ des Genres sei. Ich wurde damals fernmündlich ausgelacht. Heute lacht niemand mehr. Die jüngere Rezeptionsgeschichte sollte meine Ersteinschätzungen bestätigen. Was lernen wir daraus? Eigentlich ist es ganz lustig in Kanye Wests Kopf. Nur der Besuch damals im Weißen Haus war befremdlich. Obwohl: Trump zu treffen und dabei das Kunststück fertig zu bringen, dass der US-Präsident nicht die erratischste Figur im Zimmer ist? Muss man auch erst einmal schaffen.
Gunter Gabriel – Ich werd‘ gesucht
Eines der irrsten und unfreiwillig komischsten Zitate, das ich je gelesen habe, stammt aus einem Interview mit Gunter Gabriel. Es lautet: „Brüste sind die Tankstellen des Lebens.“ Jetzt ist Gunter Gabriel tot. Die Treppen runtergestürzt. Über Verstorbene soll man nichts Schlechtes sagen. Ich versuche es. Gabriels von allen guten Geistern verlassene Songs hatten eine ganz eigene Nichtqualität, der man sich nur schwer entziehen konnte. Man musste einfach hinhören, so wie man einfach hinsehen muss, wenn an der Autobahnraststätte am Fernfahrer-Parkplatz ein besetztes Dixi-Klo umfällt. Die politischen Botschaften seines germanischen Country-Quatschs waren natürlich unerträglich. Gabriels haarsträubende Kaputtheit rettete ihn aber meist knapp vorm kompletten Ungustltum. Mach’s gut, Gunter, wo auch immer Du jetzt bist. Einen guten Rat habe ich noch für drüben, falls Dir dort Johnny Cash über den Weg läuft: Was auch immer passiert, spiele ihm ja nie eine Deiner bescheuerten Coverversionen vor. Das hat sich Dein Idol echt nicht verdient. Ach, übrigens: Bob Dylan hat diesen Song auch mal gesungen und später den Nobelpreis für Literatur gewonnen. Ich sag’s nur!
Chromatics – Into The Black
The king is gone but he’s not forgotten. Das hier ist die Geschichte von der besten Coverversion seit Jahren. Die Chromatics aus Portland und dem benachbarten Twin Peaks reißen Neil Youngs Klassiker von 1979 ein und und erschaffen aus den rauchenden Trümmern einen gespenstisch-schönen New Wave-Schleicher. Traumhaft gespielter Dreampop zum Träumen. So flüchtig wie ein perfekter Traum, den Du nach dem Aufwachen verzweifelt versuchst festzuhalten, der Dir aber im selben Moment entgleitet, um für immer in Vergessenheit zu geraten. My my, hey hey…
Christoph & Lollo – ÖVP Wahlkampfhymne 2019
Das schlimmste, was ich 2019 musikalisch gehört habe, ist übrigens das hier. Qualvoll unlustiges Holzhammer-Kabarett trifft auf unterirdischen Lagerfeuer-Austropop. Wer das Video bis zum Ende durchhält, ist stärker als ich – oder hat einen bizarren Fremdscham-Fetisch. Beklommen starrt man auf den Bildschirm und spinnt sinistre Verschwörungstheorien. Wahrscheinlich ein türkiser Deep Fake, damit Menschen mit Geschmack aus ästhetischer Notwehr Sebastian Kurz wählen.
Weezer – Wind In Our Sail
Wenn Der Zungenbrecher „acidification“, das englische Wort für „Versäuerung“, leichtfüßig in den Text eingestreut wird, wenn in einem Atemzug von Raubfischen und Religionen, also vom Tigerhai und von der Tora gesungen wird, wenn Evolutionstheorie und Vererbungslehre in Gestalt von Charles Robert Darwin und Gregor Johann Mendel beschwingt durch den Refrain flanieren, dann weiß man: Es handelt sich um einen euphorisierenden Sommerhit von Weezer.
Khalid – Young, Dumb And Broke
Erinnere Dich zurück, wie es war, als Du 18 warst. Du hast soeben die Schule verlassen und Du hast geglaubt, dass die Welt auf Dich gewartet hat, ja dass sie Dir gehört. Du besitzt nichts außer Dich selbst. Du willst alle Deine Freunde umarmen, auf allen Partys tanzen, alle Mädchen oder Jungs küssen und alle Getränke trinken. Es ist Sommer, Du lebst, Du lachst, Du weinst und Du bist unbesiegbar jung. Doch inmitten all dieser Euphorie hörst Du schon die leise Stimme des Zweifels, die Dich warnt: Nur ja nicht einverstanden sein! Dieser flüchtige Hauch von Jetzt ist das Herzstück von Pop. Khalid, das 19-jährige R’n’B-Wunderkind aus El Paso-Texas, fängt diesen magischen Moment in drei Minuten perfekt ein. Mein Song des Jahres bisher.
Stefan Hallberg – Hotel California
Ach, das gute, alte, deutsche Pop-Missverständnis. Nirgendwo zeigt es seine incredibly strange Fratze besser als im BRD-Schlager der mittleren 1970er-Jahre. Case in point: Hotel California, playgebackt von Stefan Hallberg, einem schlecht frisierten Schnurrbart- und Latzhosenträger aus Hamburg. Der lachhafte, metaphysische Post-Hippie-Quatsch des Eagles-Originals wird hier zum eingeschriebenen Pauschalreise-Beschwerdebrief an die örtliche TUI-Filiale runtergepudert. Wie heißt es in dem Song so unschön: „Stecken Sie sich ihr Hotel doch einfach an den Hut. Dieser graue Betonklotz verschandelt nur den Strand.“ Hier stimmt überhaupt gar nichts – und damit wiederum alles. File under: tausend mal besser als das Original!
Die Fantastischen Vier – Endzeitstimmung
Die Fantastischen Vier lösen bei mir seit jeher ein ganz bestimmtes Gefühl aus. Fremdscham. Ihre Version von Hip-Hop erinnert mich immer ein bisschen an Johnny Cashs Auftritt in der Peter Alexander-Show. Irgendwie unangenehm. Irgendwie fehl am Platz. JAOK, „Die Da?!“ war vor einem halben Menschenleben drei Minuten lang ein unfreiwillig komischer Novelty-Hit. Die Reaktion bei Hip-Hop-interessierten Leuten war damals ungefähr so: „Haha, schau mal, vier Knalltüten, die im Fasching als Rapper gehen!“ Die Älteren von Euch werden sich erinnern. Aber sonst? Nicht viel. Jetzt versuchen die vier Stuttgarter ein Comeback mit – Vorsicht! – brisanter politischer Botschaft. Thema: Aktuelles aus der Tagesschau mit Schwerpunkt auf Gesellschaftskritik. Das klingt dann genau so, wie man sich das vorstellt: 50-Jähriger Führungskräfte rappen beim Deutschrock-Karaoke auf der Sparkasse-Weihnachtsfeier gegen die soziale Kälte und sagen dabei so arge Sachen wie „motherfucking“. Die einschlägigen Medien werden trotzdem Begriffe wie „Pioniere“, „Legenden“, „mutig“ und „unangepasst“ schreiben. Ich schreibe nur einen einzigen Inflektiv: Gähn! Apropos Gehen: Wie sehr hat sich Smudo denn gehen lassen? Muss man sich ernsthaft Sorgen machen? Oder ist das der natürliche Alterungsprozess? MFG mit freundlichen Grüßen!
Ach, The B-52’s. Hier sitzt einfach jedes Detail wie der Maßanzug eines Südstaaten-Gentleman: Die gelbe Bundfaltenhose und der freundlich-psychotische Blick des Sängers. Das monotone Keyboardspiel der Dame mit der Bienenkorbfrisur. Die verspiegelte Sonnenbrille des Schlagzeugers. Das kaputt-zackige Spiel des rollkragenpullitragenden Gitarristen, der, wenn ich mich nicht täusche, mit nur zwei aufgezogene Saiten sein Auslangen findet. Und natürlich der bloßfüßige Ausdruckstanz der zweiten, sonst eher unterbeschäftigten Dame. Vom vorbildlich-merkwürdigem Text will ich gar nicht ernst zu schwärmen beginnen. File under: Pop-Perfektion aus einer Welt vor unserer Zeit.
Als „The Spirit never Dies (Jeanny Final)“ im Jahr 2009 zum ersten Mal veröffentlicht wurde, ist es an mir unbemerkt vorbei geschunkelt. Leider hat mich das Elend jetzt doch noch eingeholt. Rechtzeitig zum großen Falco-Jubiläum im Jahr 2017 wurde diese musikalische Wasserleiche an die Ufer meiner Wahrnehmung gespült. Ich gratuliere den hierfür Verantwortlichen, also den Tätern, von ganzem, von dunklem Herzen. Es ist ihnen eindrucksvoll gelungen, den längst Verblichenen endgültig zum untoten Schweinsrock-Schlager-Cyborg runterzupudern. Schon blöd, wenn man sich aus naheliegenden, existenziellen Gründen nicht gegen die eigenen Nachlassverwalter wehren kann. Hansis trauriges, posthumes Schicksal soll mir Lehre und Warnung zugleich sein. Als Konsequenz werde ich meine unveröffentlichten Texte beseitigen, also alle Dateien löschen, sämtliche Festplatten neu formatieren, die Notizbücher schwärzen und Stapeln an beschrifteten Papier den reinigenden Flammen überantworten. Nicht dass mein Ableben und ein damit einhergehendes posthumes Interesse an meinem Œuvre im Raum stünde, aber: Better safe than sorry.