Die Zehnerjahre sind Geschichte. Weltpolitisch mögen sie furchtbar gewesen sein, musikalisch waren sie aber fruchtbar. Und aus diesem fruchtbaren Schoss krochen fünf Songs, die bleiben werden, Gier objektiv die besten Songs der Dekade – von A wie Andreas Dorau bis Z wie Kanye West. Pro-Tipp für fortgeschrittene User: Auf den Namen des Songs klicken und die Wunderwelt der Bewegtbilder bestaunen!
Jetzt! – Wie es war (2019)
Die Band Jetzt! War immer ein bisschen das Bernsteinzimmer der deutschsprachigen Popmusik. Eine obskure Legende, die seit vielen Erdenläufen als verschollen galt. Vom Bernsteinzimmer gibt es eine originalgetreue Nachbildung, von Jetzt! gibt es sogar etwas noch Besseres, nämlich eine Blumfeld-Coverversion ihres Songs „Kommst Du mit in den Alltag?“. Hier hören die Gemeinsamkeiten aber auf. Während das Bernsteinzimmer verschwunden bleibt, ist Jetzt! In der Person von Sänger und Songwriter Michael Girke vor ein paar Monaten überraschend wieder aufgetaucht. Als ob das als Sensation noch nicht reichen würde, hat Girke auch noch den besten deutschsprachigen Song des Jahrzehnts geschrieben. Er heißt „Wie es war“ und dauerte ambitionierte 8 Minuten und 31 Sekunden. Wer sich vom hässlichen Wort „Erwachsenenpop“ und von einem fallstrickbehafteten Thema, nämlich Heimkehr an den Ort der Kindheit, nicht abschrecken lässt, wird hier reich beschenkt. Smarte Reflexion, schlanke Poesie und stille Klugheit hinterlegt mit sanft-treibenden Gitarren, die zwischendurch von einer scheuen Keyboard-Figur und von dezenten Streichern berührt werden. Ein schlichtes, ein elegantes Wunder, das leichtfüßig über den Abgrund tanzt.
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Kanye West – Dark Fantasy (2010)
Trump, Brexit, Ibiza, Kim am Schimmel, Twitter, junge Männer mit Vollbärten, junge Frauen in merkwürdig geschnittenen Blue Jeans: Im Rückblick erscheinen die Zehnerjahre wie eine lange bipolare Störung der Realität. Womöglich hat der riesige Teilchenbeschleuniger am CERN um 2009 irgendein irreversibles Malheur auf Quantenebene angerichtet. Viel wahrscheinlicher aber erscheint mir, dass unsere Welt immer schon nur im Kopf von Kanye West existiert hat. Unbestritten ist zumindest eine Sache: Das beste Album der Dekade entsprang Kanye Wests Kopf. Es heißt „My Beautiful Dark Twisted Fantasy“ und erschien 2010. Ich erinnere mich noch genau. Nachdem ich es das erste Mal durchgehört hatte, war ich aufgewühlt wie ein frischer Maulwurfhügel. Benommen griff ich zu meinem Klapphandy, rief einen guten Freund an und erzählte ihm im Zustand der noch frischen Erschütterung, dass HipHop nun auch sein „Pet Sounds“ habe und der erste Song des Albums, nämlich „Dark Fantasy“, das „God Only Knows“ des Genres sei. Ich wurde damals fernmündlich ausgelacht. Heute lacht niemand mehr. Die jüngere Rezeptionsgeschichte sollte meine Ersteinschätzungen bestätigen. Was lernen wir daraus? Eigentlich ist es ganz lustig in Kanye Wests Kopf. Nur der Besuch damals im Weißen Haus war befremdlich. Obwohl: Trump zu treffen und dabei das Kunststück fertig zu bringen, dass der US-Präsident nicht die erratischste Figur im Zimmer ist? Muss man auch erst einmal schaffen.
Andreas Dorau – Flaschenpfand (2014)
Der Flaschenpfand bezeichnet einen Geldbetrag, den man bei einem Getränkeanbieter für eine gekaufte Flasche hinterlässt und mit Rückgabe der Flasche zurückerhält. Soviel zum erkenntnistheoretischen Background dieses verschrobenen Meisterwerks. Der Song „Flaschenpfand“ von Andreas Dorau kreist also um die großen, ewigen Themen des Pop: Leergutrücknahme, Mehrweg, Warenkreislauf und Ressourcenschonung. Wer das Lied nicht kennt, sei gewarnt: Anhören auf eigene Gefahr! Denn der Refrain ist ein heimtückischer Ohrwurm, der den Wirtskörper befällt, um sich darin für immer einzunisten. Ein Gegenmittel gibt es nicht. Nur der Tod des Trägers bringt Erlösung. Es ist grausam: Man steht an der Bushaltestelle, an der Supermarkt-Kasse oder im Wartezimmer des Bewährungshelfers und ertappt sich dabei wie man halblaut singt: „8, 15, 25 Cent….“ Wie so oft bei Andreas Dorau gilt: In einer anderen, einer besseren Realität wäre das ein Welthit wie „Life is life“ oder „Wake Me Up Before You Go-Go“. Leider leben wir in dieser. Schade.
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Soap & Skin – Voyage, Voyage (2012)
Ja, ich weiß. Der Song ist nicht aus den Zehnerjahren. Na, und? Ich hab bereits als junger Stutzer, vor gefühlten 100 Jahren, zum Original getanzt. Diese Coverversion ist trotzdem einer der großen Highlights der Dekade. Ich verneige mich vor Anja Plaschg. Sie ist die Königin. Als dieses wackelige Video aufgenommen wurde, saß ich im Wiener Konzertsaal und traute meinen Ohren nicht. Ich war wie vom Donner gerührt. Musik als Echo der Ewigkeit. Musik als Teilchenbeschleuniger der Ergriffenheit. Musik als transzendentales Ereignis. Last Train to Transcentral. Endstation. Alle aussteigen! Mehr Kunst ist beim besten Willen nicht möglich. Ich sag’s gleich: Wenn das nicht bei meiner Beerdigung gespielt wird, gehe ich erst gar nicht hin.
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Superpunk – in der Bibliothek (2010)
„in der Bibliothek“ ist der einzige, mir bekannte deutschsprachige Popsong, in dem sowohl Truman Capote als auch Eric Ambler namegedroppt werden. Das alleine sollte für jede Jahrzehnten-Bestenliste locker ausreichen. Aber dann wäre noch dieser Mörderrefrain:
Die Dancer, die Lover, die Surfer am Meer /
ich beneide sie schon aber nicht so sehr /
Denn ich hab‘ die Bibliothek
Besser geht es nicht. Konsequenterweise hat sich die Band danach auch aufgelöst und den Gitarristen ins Wiener Exil verbannt, wo er seither wehmütige Soulmusik hört und vom Hamburger Sportverein träumt. Aber das ist eine andere Geschichte.