In späten 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts gab es eine lehrreiche französische Zeichentrickserie namens „Es war einmal … der Mensch“. In den späten Zehnerjahren des 21. Jahrhunderts gibt es einen sinnlosen Musikdiskurs namens „Es war einmal … die Popmusik“. Es ist nämlich so: Seit einigen Jahren macht sich unter angeblich musikinteressierten Menschen über 35 eine traurige Meinung breit, wonach das Phänomen Pop seit _ _ _ _ _ _ _ _ (bitte beliebige Band von vor circa 1996 einfügen) auserzählt sei. Das ist kulturpessimistischer Quatsch und outet besagte Meinungsinhaber als Menschen, die unfrei oder willig in ihrer eigenen Adoleszenz stecken geblieben sind. Gefangen im Kerker der Nostalgie, taub auf beiden Ohren für das Neue, abgeschottet vom Hier und Jetzt und immunisiert gegen das ewig junge Pop-Versprechen kaufen sie sich gierig die xte 180-Gramm-Gatefold-Vinyl-Reissue von „Highway 61 Revisited“, von „Unknown Pleasures“, von „The Queen Is Dead“ oder von „Never Mind the Bollocks, Here’s the Sex Pistols „. Warum? Wohl um sich die zumeist opulent aufgemachten Tonträger ins Designerregal zu stellen. So wie eine Ming-Vase, die gesammelten Werke von Stefan Zweig in Schweinsleder gebunden oder ähnliches bildungsbürgerliches Flitterwerk. Für diese Leute ist Pop nichts weiter als Distinktion. Ein Erwachsenen-Hobby wie Dauerlauf, Wertpapierhandel oder Bartpflege. Eine Lüge, die sie sich selbst erzählen, um sich darüber hinweg zu trösten, dass sie den Anschluss längst verpasst haben. Ever get the feeling you’ve been cheated? Johnny Rottens Frage aus dem Jahr 1978 war bereits damals eher rhetorischer Natur.
Newsflash: Das oft besungene Ende der Geschichte hat nie statt gefunden. Weder 1968, noch 1978 noch 1996 und schon gar nicht 2017. Klar, die Rahmenbedingungen mögen sich drastisch geändert und die Verdienstmodelle mehrheitlich aufgelöst haben, aber Pop ist immer noch genauso kräftig, genauso viril, genauso verführerisch und genauso unbesiegbar jung wie eh und je. Ein atemberaubendes Beispiel hierfür ist der kalifornische Rapper Vince Staples. Der 24-Jährige hat heuer eine Schallplatte namens „Big Fish Theory“ veröffentlicht. Sie klingt gnadenlos nach Zukunft. Nach morgen und übermorgen. Nach fliegenden Autos und intelligenten Maschinen. Nach Afro-Futurismus und Techno-Singularität. Nach Verzweiflung und Souveränität. Nach Widerstand und Aufbruch. Nach „What the fuck? Und „Oh, my god!“. Also nach: Pop im besten Sinn. Ich darf den Erwerb dieses erstaunlichen Werkes an dieser Stelle mit nachgerade fanatischer Begeisterung empfehlen. Worauf wartet die geneigte Leserschaft noch? Raus aus der bequemen Retro-Komfortzone und hinein in die Zukunft!
Anm.: Der Text erschien in der Dezember/Jänner-Ausgabe des größten Schweizer Pop-Magazins „ROCKSTAR“ im Rahmen meiner Justified & Ancient-Kolumne. Die Schweizer Rechtschreibung wurde beibehalten.