Ein schöner junger Prinz verirrte sich im Wald
Wolfgang Zechner
Einem Filmtitel aus den 1980er-Jahren widersprechend war nicht 2010, sondern 1982 das Jahr, in dem ich Kontakt aufnahm. Womit, wird sich gleich zeigen. Zuerst darf ich die Leserschaft ein wenig mit atmosphärischem und biografischem Klimbim behelligen. Reisen wir also zurück in der Zeit. Ich bin fast zehn Jahre alt und lebe in Graz. Graz ist meine Stadt. Graz ist die größte Stadt, die ich kenne. Graz ist auch die einzige Stadt, die ich kenne Es ist Juni und ich bin endlich mobil. Vor ein paar Tagen habe ich mein erstes, Rennrad geschenkt bekommen. Ein blaues „Puch Clubman“. Ohne Rücktritt, dafür mit Zwölfgangschaltung, Querstange und u-förmig nach unten gebogenem Lenker. Noch ein Jahr bis ich ins Gymnasium komme. Dann beginnt der Ernst des Lebens. Dass zumindest wiederholen die Erwachsenen gebetsmühlenartig. Ernst des Lebens? Pah! Das letzte Jahr in Freiheit werde ich genießen! Ich trete in die Pedale und flitze durch den Grazer Stadtpark. Ich bin unbesiegbar jung. Der Sommer kann kommen. In ein paar Tagen werden ich mit meinen Eltern im Opel Kadett in den Jugoslawienurlaub fahren. Wenn ich nicht Rad fahre oder mit meinen Freunden spiele, lese ich Bücher und Comics. Die Jugendbuchserie über den Berliner Weltraumfahrer Mark Brandis, geliehen aus der örtlichen Filiale der Stadtbibliothek, Clever & Smart, Captain Future, Lustige Taschenbücher natürlich sowie die Superhelden-Teams von Marvel und DC, also die Rächer und die Gerechtigkeitsliga. Manchmal ist sogar schon eines dieser übel beleumundeten Mad-Hefte dabei – na und? Im Fernsehen läuft Mondbasis Alpha 1 und am Wochenende eine Samstagabendshow mit Frank Elstner oder mit Blacky Fuchsberger, dem Kommissar aus den Edgar Wallace-Filmen. Videospiele gibt es kaum. Einzig mein Freund Max besitzt eine dieser sündteuren Philipps G7000-Konsolen. Sagt man 1982 schon Konsole? Ich denke ja. Im Eggenberger Freibad steht ein Münzkasten auf dem der Weltraum-Shooter Phoenix läuft. Der Zugang zu dem Arkade-Automaten gestaltet sich aber schwierig, da er zumeist von grimmig dreinblickenden 13-Jährigen belagert wird. Erst eine gefühlte Ewigkeit später, nämlich im Herbst 1986, wird mir mein Großvater einen Commodore 64 schenken. Doch das ist eine andere Geschichte, aus einer anderen Zeit. Noch sind wir im Sommer 82. Es ist auch das Jahr meiner ersten Fußball WM. Spanien 82. Ich klebe mein Panini-Album halbvoll und spiele im Hof Fußball. Rot gegen Schwarz. Vier Schultaschen sind zwei Tore und drei Corner sind ein Elfer.
Bewusst Musik habe ich bisher kaum gehört. Ja klar, im elterlichen Schrank steht eine Handvoll Schallplatten. Irgendwas von den Beatles, eine Melanie-Platte, eine von Boney M, eine Peter Alexander-Werkschau und zwei, drei K-tel-Sampler. Bei Rockmusik denke ich an hässliche, männliche Erwachsene mit langen, ungepflegten Haaren und albernen Schnurrbärten, die gramgebeugt über ihren Keyboards, Schlagzeug-Türmen und E-Gitarren hängen und dabei ihrem freudlosen Tagwerk nachgehen. Als besonders unangenehm empfinde ich das Genre Austropop. Die Liedermacher-Typen erinnern mich mit ihren besserwisserischen und unlustigen Dialekttexten an Religionslehrer, die kleidungstechnisch von Handarbeitslehrerinnen ausgestattet wurden. Sie riechen förmlich nach Schule.
An einem schicksalhaften Sommernachmittag passiert es dann. Ich nehme Kontakt auf. Ich sitze alleine im Wohnzimmer. Der Farbfernseher flimmert. Es gibt hier in Österreich nur zwei Programme: FS 1 und FS 2. Auf einem läuft gerade eine sogenannte Jugendsendung. Dafür bin ich eigentlich noch zu jung, aber okay. Sie heißt „Ohne Maulkorb“. Gerade als ich gelangweilt den Ausschaltknopf des Fernsehers drücken will, erscheinen zwei Gestalten auf dem Bildschirm, die mit dem herkömmlichen Bild von Rockmusikern so gar nichts gemein haben.
Die beiden tragen schwarze, enge Kleidung, kurz geschnittene Haare und starren mich aus dem Röhrenfernseher heraus mit kalten Blicken an. Der eine bewegt sich eckig wie ein Roboter und deklamiert dazu betont emotionslos einen seltsamen Text. Irgendwas von einem schönen jungen Prinzen, der sich im Wald verirrt. Und von einem Räuber, der sich in eben diesen Prinzen verliebt und ihn entführt. Der Prinz scheint sich über den Menschenraub nicht zu grämen, denn er erwidert die Liebe des Räubers. Das ergibt für mich zwar nur wenig Sinn, aber zumindest singt der Typ auf Deutsch, was ungewöhnlich ist. Die zweite Person steht stoisch daneben und schlägt monoton auf eine einzige Snare ein. Die Performance strahlt drei Dinge aus: Unwirklichkeit, Aufbruch und Gefährlichkeit. Ich bin fasziniert. Die älteren Brüder meiner Freunde meinen, das sei Blödsinn. Sie nennen es „Neue Deutsche Welle“. Komischer Name. Erst viel später, irgendwann am Ende des Jahrzehnts, wird mir klar, dass es eigentlich Punk war. Jetzt, im Sommer 82, ist es für mich Science Fiction. Der Sound der Zukunft. Auch der Name der Band klingt für mich fremdartig, sperrig und geheimnisvoll zugleich. Deutsch Amerikanische Freundschaft. DAF. Was ich damals noch nicht weiß: Vieles. Unter anderem, dass der Typ mit der Trommel Robert Görl heißt und ein paar Jahre davor sein Handwerk einen Steinwurf von meinem Kinderzimmer entfernt, auf der Musikhochschule zu Graz, perfektioniert hat. Alle gegen alle? Nein, alles hängt mit allem zusammen. Zumindest im trügerischen Labyrinth des autobiografischen Rückblicks. Realität wird zur Fiktion und umgekehrt. Man reiche mir dann doch lieber die blaue Pille.
Ein unangenehmer, dafür aber bizarrer Zwischenruf: Der Moderator von „Ohne Maulkorb“ wird elf Jahre später europaweit für Schlagzeilen sorgen. Er wird in Ungarn einen Mann erschießen, ihn anschließend zersägen und in 17 Plastiktüten abpacken. Doch zu diesem Zeitpunkt werden meine unschuldigen 80er-Jahre längst Geschichte sein. Next Generation statt Mondbasis Alpha. Harald Schmidt statt Frank Elstner. Dumb and Dumber statt Clever & Smart. Und Nevermind statt Neue Welle. Aber bis dahin ist ja zum Glück noch viel Zeit.
Noch ist 1982. Mein Year Zero. Ich habe vom dunklen Gral gekostet, habe vom süßen Gift genascht. DAF haben den Schalter in meinen Kopf umgelegt, haben mein Gehirn neu formatiert. Nichts wird mehr so sein, wie es bisher war. Ich beginne damit, Songs aus dem Radio auf Tonbandkassette aufzuzeichnen. C60 oder C90? BASF oder Philips? Egal, Hauptsache der Moderator quatscht nicht zu früh in die Nummer rein. Am 15. Oktober ist mein zehnter Geburtstag. Ich wünsche mir meine erste Musikschallplatte. Eine Single. Den Song hatte ich ein paar Wochen vorher zum ersten Mal zufällig gehört. Das Lied handelt von einem Außerirdischen, dem der Sprit ausgeht und der deshalb auf der Erde zwischenlanden muss. Weil er aber goldenes Haar hat, also ein Traum von einem Mann ist, werden alle Frauen in seiner Gegenwart platt, was wiederum die anderen Männer zuerst nervös und später furchtbar böse macht. Also reist der so Angefeindete wieder ab. Freundlich bittet er die zurückgebliebenen Damen, nicht traurig zu sein, beteuert, wie schön es ihm hier auf der Erde gefallen hat und kündigt an, dereinst wiederzukommen. Den Kinderlied-Refrain singt ein Schülerinnen-Chor. Die Mädchen sind maximal zwölf, also kaum älter als ich. Ich bin begeistert. Endlich ein Song, der mich musikalisch wie inhaltlich punktgenau abholt. Der Name des Songs: „Fred vom Jupiter“ Der Interpret: Andreas Dorau. Oder streng genommen: Die Doraus & die Marinas. Zu meinem Geburtstag werde ich die Single vorsichtig aus der knallbunten Papierhülle nehmen, sie ungelenk mit Zeigefinger und Daumen auf den Plattenteller der elterlichen Stereoanlage bugsieren und schließlich zitternd die Nadel auf das schwarz glänzende Stück Polyvinylchlorid legen. Es knistert. In diesem magischen Moment wird die Zeit für eine kurze Ewigkeit still stehen. Für immer 1982! Für immer Pop! Beseelt von einer kindlicher Gewissheit durchströmen mich verschiedene Gedanken: Alles ist gut! In die Zukunft! Aber wie die Finne eines Hais kreist in meinem Kopf kreist bereits eine Frage: Was mag wohl erst 1983 bringen?
Wolfgang Zechner lebt in Wien, wo er vor allem alles Autor und Journalist auffällig ist. Seine erstaunliche Transformation vom kleinen, ungespitzten Jolly-Buntstift zum großen, feingeschliffenen Montblanc-Füller begann in den 1980er-Jahren in Graz.
Der Text erschien in „Geschichte wird gemacht: Deutscher Underground in den Achtzigern“, herausgegeben von Xao Seffcheheque und Edmund Labonté, Heyne Verlag 2019