Die große Pause war einst eine Zeit des magischen Realismus. 15 Minuten lang stand man Tag für Tag am Gang oder am Schulhof herum und erzählte sich Haarsträubendes. Manche erinnern sich vielleicht noch an diese Gespenster-Geschichten: Da gab es die Mär von dem bewusstlosen Mann, dem Unbekannte eines Tages einen Kühlschrank auf den Rücken tätowiert haben. Oder die Warnung vor einer Spinnenart, die ihre Eier per Biss unter der menschlichen Haut ablegt, auf dass dort viele kleine Spinnen schlüpfen mögen. Nicht zu vergessen die Story vom Krokodil, das von einem Tierschmuggler in der örtlichen Kanalisation ausgesetzt wurde und nun, Jahre später, als ausgewachsene Echse nach Gusto Menschen verschlingt. Urbane Legenden würde man zu diesem Pflichtschul-Garn heute wohl sagen. Eine erzählerische Sonderform der Fake News. Von einer ganz besonderen urbanen Legende möchte ich an dieser Stelle berichten.
Es muss irgendwann Mitte der 1980er-Jahre gewesen sein, da erzählte mir ein Mitschüler mit verschwörerischem Tonfall in der Stimme und hinter vorgehaltener Hand schier Unglaubliches: Angeblich soll es vor vielen Jahren einen Fußballspieler gegeben haben, der sich für sein Panini-Bild mit einer brennenden Zigarette in der Hand hat ablichten lassen. Sofort beutelte mich die Ehrfurcht. Das war selbst für die damalige Zeit ein im wahrsten Sinne des Wortes atemberaubender Akt der Rebellion. Und das, obwohl Rasenballsportler in den Achtzigern noch Schnapsflaschen und Spielkarten anstatt Beats by Dre-Kopfhörer und „Only God Can Judge Me“-Tätowierungen herumschleppten. Logischerweise bewunderten wird den rauchenden Rebell. Über seine Identität aber herrschte Unklarheit. Wer war er? Woher kam er? Was trieb ihn an? Schnell entstanden Vermutungen, wurden Theorien ersonnen. Ein Engländer oder Schotte soll er angeblich gewesen sein, hiess es. Klar, die Visagen kannte man aus den einschlägigen WM-Alben. Humorlose Trinkergesichter mit unvollständigen Zahnreihen und latenter Gewaltbereitschaft in den toten Augen. Vermutlich allesamt Kettenraucher. Die Panini-Porträts von Steve Archibald aus den 1982er- und 1986er-Alben legen heute noch beredtes Zeugnis von einem Sportlertyp ab, der inzwischen ausgestorben ist. Aber der Mittelstürmer Archibald – da waren wir uns sicher – war nicht der geheimnisvolle Tabakkonsument. Es muss eher ein Vorstopper oder Manndecker gewesen sein, also einer fürs Grobe. Einer, der sich halt nichts scheißt, wie wir damals in der Großen Pause gesagt haben. Doch es war zum Haare raufen: Ohne Internet, das damals noch unerfunden war, gab es für uns keine Möglichkeit, das Rätsel zu lösen. Irgendwann verloren wir das Interesse daran, beendeten die Schule und wurden erwachsen. Jahre vergingen, das Internet wurde überraschenderweise doch noch erfunden und das Geheimnis vom rauchenden Rasenballsportler gelüftet.
Das Wesen einer urbanen Legende ist es, das diese gut erfunden ist. Nicht so die Geschichte vom rauchenden Kicker. Nein, die war nicht schlecht erfunden. Viel schlimmer: Sie war wahr. Mehr noch: Sie war sogar noch besser, als wir uns das vor 30 Jahren hätten träumen lassen. Unser einstiger Held existiert tatsächlich. Er heißt Phil Hoadly und spielte 400 Ligaspiele für die Londoner Fußballvereine Chrystal Palace und Leyton Orient. Nun aber der Clou: Hoadly wurde nicht nur einmal, sondern gleich zweimal mit einer Zigarette im Vorderpfötchen in einem Pickerlheft verewigt. Sowohl in der Saison 1970/71 als auch in der Spielzeit 1971/1972 ist er in einem Panini-Konkurrenzprodukt namens „FKS Wonderful World of Soccer“ samt Rauchwaren abgebildet. Einmal leger schlendernd mit der Kippe in der Hand, das andere Mal lässig kniend, dabei mit der rechten Hand gleichzeitig den Glimmstängel und die Lederkugel haltend.
Trotz der späten Genugtuung über die bewiesene Existenz der pädagogisch wertlosen Sammelbilder, bleibt auch ein Gefühl des Unbehagens. Denn es beweist, dass die Gespenster-Geschichten aus unserer Kindheit wahr sind. Volltrunkene werden tatsächlich von Ruchlosen heimtückisch tätowiert. Achtbeiniger Nachwuchs kann tatsächlich in uns gedeihen. Und im Tiefparterre unserer Metropolen leben wohl wahrhaftig menschenfressende Alligatoren. Inzwischen wahrscheinlich in dritter Generation. Seltsam, aber so steht es geschrieben.