Reggeaton, eine eingängige Mischung aus Latino-Pop, Dancehall und HipHop, eroberte in den vergangenen zwölf Monaten die Welt. Dahinter steckt nicht weniger als eine Neuordnung der globalen Pop-Landschaft.
Vier Milliarden fünfhundertsechsunddreissig Millionen zweihundertsiebzigtausend und einundsiebzig. In Ziffern: 4.563.270.071. Zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Textes, irgendwann in der zweiten Dezemberhälfte, war das die Anzahl der Klicks, die der weltweit populärste Reggeaton-Song „Despacito“ im Jahr 2017 angehäuft hat. Ich kann förmlich spüren, wie die Lippen vieler verdutzter Leserinnen und Leser eine Frage bilden: „Reggea Was?“ Reggeaton. Hinter dem Genre-Namen versteckt sich eine fast schon unerträglich eingängige Mischung aus Rap, Dancehall, Reggea und Latino-Pop. Es ist eine Synthese aus unterschiedlichen Kulturen und Genres, die im Jahr 2017 die internationalen Charts von unten aufgerollt hat. Wer das Video zum eingangs erwähnten Viereinhalb-Milliarden-Gassenhauer ansieht, bekommt ein gutes Bild, was man sich unter Reggeaton vorzustellen hat. Nämlich Lebensfreude, Lebensfreude und Lebensfreude. Dazu ein bisschen Sex. Zumindest indirekt. Im dazugehörigen Video tritt ein lebensbejahender Ricky Martin-Doppelgänger im schwarzem Feinripp auf. Er trägt eine zeitgenössische Vorne-lang-hinten-kurz-Frisur am Kopf und eine schwarze Sonnenbrille auf der Nase. Nach wenigen Sekunden beginnt er auf Spanisch zu singen und dazu die Hüften zu schwingen. Neben ihm steht ein zweiter Mann. Es ist ein Rapper und nennt sich Daddy Yankee. Er strahlt ein kleines bisschen Gangstertum aus, verkörpert somit einen im HipHop-Genre tief verankerten Archetyp. Daddy Yankees homöopathisches Gangstertum ist freilich so wohldosiert, dass es den Rahmen der universellen Harmlosigkeit gerade nicht sprengt. Der Rapper trägt die genretypischen Insignien seiner Zunft, also eine Bling Bling-Kette und eine Baseball-Mütze. Wenig überraschend beginnt er zum Start-Stop-Rhythmus des Tracks zu rappen. Im Hintergrund ausdruckstanzen schöne jungen Menschen durch die Favela eines mittelgut beleumundeten Südseeorts und simulieren hüftabwärts den Beischlaf. Weil die Reizüberflutung noch nicht auf die Spitze getrieben ist, werden zwischendurch immer wieder diverse Latino-Klischees optisch eingestreut. Diese reichen von der Maria-Statue (Katholizismus!) bis zum alten Mann mit Hut (Buena Vista Social Club!).
Vieles von dem, was man hier zu sehen und zu hören bekommt, erscheint bekannt. Das Langzeitgedächtnis gräbt die Erinnerung an untote Sommerhits wie „Lambada“ oder „No Tengo Dinero“ aus. Und dennoch: Das Reggeaton-Fieber wütet stärker als es diese musikalischen Latino-Eintagsfliegen je vermocht hätten. In 45 Ländern führt der puerto-ricanische Song der beiden Enddreissiger die Charts an. In den USA hielt das Lied in einer Remix-Version mit Justin Bieber sogar 16 Wochen lang die Topposition der Billboard-Charts und stellte damit einen Rekord von Mariah Carey und Boz II Men aus dem fernen Jahr 1996 ein. Und das war erst der Anfang.
Rasantes Wachstum
Ein Blick auf die Zahlen des weltgrössten Musikstreaming-Anbieters Spotify verdeutlicht das Ausmass des Reggeaton-Booms. Alleine zwischen Mai 2014 und Juni 2017 wuchs Spotify von zehn Millionen User auf 140 Millionen an. Im selben Zeitraum stieg der Genre-Anteil von „klassischer Popmusik“ auf Spotify um 14 Prozent. Country legte in der Zeitspanne sogar nur um vier Prozent zu. Ganz anders sieht es mit Song aus, die man gemeinhin mit dem zugegeben etwas schwammigen Überbegriff „black music“ zusammenfasst. HipHop legte um 86 Prozent zu, Reggeaton sogar um 119 Prozent.
Diese Zahlen zeichnen aber auch einen möglichen Weg vor, den die populäre Musik in den kommenden Jahren beschreiten wird. Oder besser: noch stärker beschreiten wird. Man lehnt sich nicht allzu weit aus dem Fenster, wenn man festhält: Die Zukunft der Popmusik ist vor allem eines, nämlich nicht weiss. Geriatrische Rockbands mögen zwar immer noch die Stadien füllen und den schläfrigen Diskurs in so manchen Feuilletons dominieren, künstlerische Relevanz – vor allem auf globaler Ebene – haben sie freilich kaum noch. Die entscheidenden Impulse kommen seit Jahren nicht von „oben“, sondern von „unten“, genauer aus den USA und aus Latein- sowie Südamerika. Eine grosse Klammer ist dabei die HipHop-Kultur und ihre mannigfaltigen Spielarten. Damit ist Reggeaton im Grunde nur eine weitere Facette einer grösseren Geschichte: Nämlich der langen Marsch von HipHop durch die Pop-Instanzen. Was einst in den frühen 1970er-Jahren bei sogenannten Blockpartys in der New Yorker Bronx seinen Anfang genommen hat, rappte sich in vergangenen 45 Jahren zur wichtigsten globalen Jugendkultur hoch. Kool DJ Herc, Grandwizard Theodore, Grandmaster Flash und all die anderen Pioniere, die einst in ihren Kinderzimmern den Schallplattenspieler zu einem Musikinstrument umfunktionierten, hätten sich damals wohl nicht erträumen lassen, dass sie damit die Grundlagen für die künftige musikalische Weltherrschaft im 21. Jahrhundert legen würden. Eine Weltherrschaft, die Karrieren ermöglicht hat wie jene von André Romelle Young. Der heute 52-Jährige startete seine Karriere in einem besonders übel beleumundeten Bezirk in Los Angeles, in Compton, als Kopf der Gangster Rap-Pioniere N.W.A. Parallel zu einer erfolgreichen Solo-Karriere entwickelte er sich zu einem der wichtigsten Produzenten des Genres (Snoop Dogg, Eminem, 50 Cent) und brachte schliesslich in Kooperation mit der Firma Monster die nach ihm benannten Beats by Dr. Dre-Kopfhörer auf den Markt. 2014 verkaufte Young die Kopfhörer an den Apple-Konzern. Der Kaufpreis: Wohlfeile drei Milliarden Dollar, davon 2,6 Milliarden in Cash. Der gute Doktor wurde über Nacht zu einem der reichsten Künstler aller Zeiten. Nicht vom Tellerwäscher, dafür aber vom Plattentellerdreher zum Milliardär. Es ist die Geschichte vom amerikanischen Traum – kurz vor Ausbruch des amerikanischen Alptraums.
Ein König namens Kendrick
Es ist ein Alptraum, der im Jahr 2016 seinen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Donald Trump wurde zum 45. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Was das mit Reggeaton und HipHop zu tun hat? Alles, wenn man so will. Denn während das Mutterland der Popmusik politisch am Boden liegt, und die täglichen Nachrichten über Trump’sche Exzesse und rassistische Polizeigewalt die Öffentlichkeit lähmt, begann sich der Widerstand zu formieren. An vorderster Front dabei: die Männern und Frauen mit dem Mikrofon in der Hand. Kendrick Lamar, der grösste Rapper seiner Generation, erklärte dem umstrittensten US-Präsidenten der Geschichte explizit den Krieg. Und zwar mit jener Waffe, die im HipHop traditionell geführt wird: mit dem Wort. Pharrell Williams, eine Hälfte des legendären Produzenten-Duos The Neptunes, bezeichnete Kendrick bereits vor Jahren als „den Bob Dylan dieser Generation“. Und tatsächlich: Bei den Protesten gegen die rassistische Polizeigewalt in den USA griffen die wütenden Massen die Lamar-Single „Alright“ auf und verwandelten sie zur Protesthymne einer ganzen Generation. So wie die Bürgerrechtsbewegung der 60er-Jahre „We shall overcome“ sangen, intonierten ihre Enkel aus der „Black Lives Matter“-Bewegung nun „Alright“. HipHop als Volksmusik. HipHop als Soundtrack zum Widerstand. HipHop als bunter Gegenentwurf zum Amerika der weissen, alten, rechten Männer.
Musikalische Emanzipation – oder auch nicht
Noch bunter ist Reggeaton. Die Vermischung aus schwarzer, jamaikanischer und lateinamerikanischer Kultur mag man in ihrer berechnenden Ohrwurmhaftigkeit als oberflächlich empfinden. Sie verkörpert dennoch einen multikulturellen Gegenentwurf zum weissen Amerika der neuen Rechten und zum global wiedererstarkten Rechtsextremismus, der auch in Europa immer öfter an die Hebeln der Macht drängt. Dabei spiegelt Reggeaton gerade in den USA eine demografische Verschiebung wider. Das Land wird zusehends bunter. Zusehends hispanischer. Damit ist freilich noch nicht bewiesen, dass Reggeaton eine per se emanzipatorische Musik ist. Ein Blick auf die Rolle der Frau in den einschlägigen Videos zeugt eher vom klassischen Machismo-Weltbild hispanischer Prägung. Einem Weltbild, das paradoxerweise wohl eher bei Trump selbst als bei Trumps Kritikern auf Zustimmung stossen dürfte.
In die Zukunft!
Eines ist Reggeaton aber sicher: Vielseitig, Nämlich im wahrsten Sinne des Wortes. Man nehme nur „Despacito“. Es gibt nicht nur den Originalsong von Luis Fonsi und Daddy Yankee und den Remix von Justin Bieber, sondern auch eine Salsa-Version, eine Version ohne den Rapper sowie zahlreiche lokale Interpretationen. Eines haben alle Inkarnationen gemein: Sie werden gestreamt, geklickt geladen und gekauft. Die vielköpfige Reggeaton-Hydra „Despacito“ ist ein perfektes Beispiel dafür, wie man Popmusik heutzutage global monetarisieren kann. Und das, obwohl in den Medien seit Jahren der Untergang der Musikindustrie beklagt wird. Ein Untergang der zwar real ist, dem aber auch ein Neuanfang inne wohnt. Wer ausschliesslich weisse, in die Jahre gekommene Gitarrenmusik hört, mag das vielleicht nicht mitbekommen. Denn die Musik spielt jetzt woanders. Die Zauberformel heisst: Kulturelle Aneignung als musikalische Strategie. Künstler wie Drake, Bieber und Ed Sheeran greifen geschickt lokale kulturelle Trends auf und multiplizieren sie auf den grossen Streaming- und Videoplattformen. Und die Welt konsumiert sie auf ihren Smartphones. Das ist die Gegenwart. Und die Zukunft. Bleibt zum Schluss eine einzige Frage unbeantwortet: Wie zum Teufel bekomme ich „Despacito“ wieder aus meinen Gehörgängen raus?
Anm.: Der Text erschien leicht abgeändert in der NZZ am Sonntag vom 31. 12. 2017. Die Schweizer Rechtschreibung wurde beibehalten.