Ist Alpinismus ein Thema für ein Schweizer Pop-Magazin? Warum eigentlich nicht!
Wobei: Streng genommen geht es in den folgenden Zeilen gar nicht um die
Wanderlust, sondern um Stil. Und um Selbstaufgabe. Auch die Berge bekommen wir
im Verlauf dieser Niederschrift gar nicht zu Gesicht. Die Geschichte beginnt im
öffentlichen Nahverkehrsnetz einer mitteleuropäischen Grossstadt und endet auch
dort. Vor ein paar Tagen wartete ich an einer Haltestelle auf den Linienbus. Das
Wetter hatte umgeschlagen, die Temperaturen waren auf ungemütliche 16 Grad
Celsius gefallen. Da erblickte ich sie. Sie standen neben mir. Ein Pärchen, beide etwa
Mitte 30, das auf aufreizende Art alpinistisch gekleidet war. Die zwei trugen
Funktionswäsche von Kopf bis Fuss, die sie offenbar partnerschaftlich aufeinander
abgestimmt hatten, so als wollten sie aller Welt mit Hilfe von synchroner
Wanderkleidung von ihrer Verbundenheit erzählen.
Die gleichen mintfarbenen Outdoorjacken aus wasserabweisendem Polyamid? Check.
Die gleichen fahlbunten Trekkingschuhe. Check. Die gleichen Sportsonnenbrillen mit
dem geschwungenen Rahmen und den bunt-verspiegelten Gläsern? Check. Er trug
ausserdem einen geschmacklosen, gelbgrünen Multifunktionsrucksack am Rücken an
dem aussen eine Aluminiumflasche mit Hilfe eines glänzenden Stahlkarabiners
befestigt war. Die beiden urbanen Gletscherflöhe sahen aus wie die Büromenschen-
Version von „Sieben Jahre in Tibet“, die gerade zu einer mehrwöchigen Expedition
zum Nanga Parbat aufbrach.
Komisch, dachte ich mir, die Linie 12A fährt gar nicht bis nach Kaschmir. Ausserdem:
Was wollte die Frau ausgerechnet im Westhimalaya mit einer prall gefüllten
Einkaufstasche von Peek & Cloppenburg? In mir kletterte ein detektivisches
Misstrauen hoch wie ein Rudel nervöser Berggämse. Mehr noch, ein Verdacht bestieg
mich gleich einem erfahrenen Sherpa. Könnte es vielleicht sein, dass die zwei
vermeintlichen Hochtouristen gar keinen alpinistischen Hintergrund hatten.
Während meine Gedanken hin und her wanderten, hörte ich, wie er zu ihr sagte:
„Gehen wir noch auf einen Caffè Latte?“ Sie antwortete: „Nein, ich bin vom vielen
Shoppen müde. Fahren wir lieber nachhause.“
Der österreichische Gipfelstürmer Reinhold Messner wollte einst dem Himmel näher
sein und bestieg darum Achttausender ohne Sauerstoffflasche. So atmungsaktiv ist
heute nur noch die Kleidung. Denn unten, in der Hölle des Heute, nehmen die
biederen Funktionskleidungsfetischisten des 21. Jahrhunderts ohne Wasserflasche
nicht mal mehr den Bus ins nächste Einkaufszentrum.
Anm.: Der Text erschien im Rahmen meiner „Justified&Ancient“-Kolumne in der Mai 2018-Ausgabe des Schweizer Popkultur-Magazins RCKSTR. Die Schweizer Rechtschreibung wurde auch hier beibehalten.