Die schwedische Poplegende ABBA kehrt 2019 auf die großen Bühnen der Metropolen zurück – und zwar als Hologramm. Grund genug, die Bedeutung der Band neu auszuloten. ABBA ist die tanzende Königin der Pop-Geschichte und bleibt auch 36 Jahre nach dem Band-Aus eine rätselhafte Anomalie.
Was ist Punk? Auf diese Frage gibt es viele Antworten und es drängt sich eine Folgefrage auf: Was zum Teufel hat diese Frage mit der schwedischen Popband ABBA zu tun? Sehr viel, aber um das zu verstehen, muss ich die Ausgangsfrage beantworten. Punk kann vieles sein, zum Beispiel auch das: Einfach nicht käuflich sein. Und damit wären wir bei ABBA. Im Jahr 2000 boten Veranstalter der Band die Kleinigkeit von einer Milliarde Dollar. Als Gegenleistung hätten sie nur ein paar Reunion-Konzerte rund um den Globus spielen sollen. Eine Milliarde Dollar. Das entspricht ungefähr dem Bruttoinlandsprodukt von Ländern wie Gambia oder Grenada. Viel Holz also für relativ wenig Arbeit. Die Musiker sagten trotzdem „nej tack“, was schwedisch ist und ungefähr so viel wie „Nein Danke“ bedeutet. Egal ob eine Million, eine Milliarde oder eine Fantastilliarde – die Band hatte kein Interesse das fortzusetzen, was sie 1982 beendet hatte. Während der Ausverkauf von Punk zur Jahrtausendwende bereits 20 Jahre voll im Gange war, punktete das schwedische Quartett mit einer Verweigerungshaltung, die man nur als schwindelerregend bezeichnen kann. Freilich muss man wissen, dass die Band bis heute mehr als 375 Millionen Platten verkauft hat. Mehr haben nur die Beatles geschafft. Auch ohne die ausgeschlagene Milliarde dürften die vier ABBA-Mitglieder einem finanziell abgesicherten Lebensabend entgegenblicken.
Nun, 18 Jahre nach dem Reunion-Angebot, scheint es aber doch noch ein Comeback zu geben. Und zwar eines, bei dem Musiker gleichzeitig auftreten und nicht auftreten. Schrödingers schwedische Pop-Katze funktioniert so: ABBA gehen 2019 auf Welttournee – und zwar als Hologramme oder Avatare. Konkret wird eine Live Band spielen, während vier jugendliche Ausgaben der ABBA-Musiker auf die Bühne projiziert werden. ABBA-Mastermind Benny Andersson erklärte das Konzept zuletzt im Pop-Magazin Rolling Stone so: „Falls die Hologramme uns nicht überzeugen, nehmen wir Avatare, also digitale Zeichnungen unserer Körper. Den Gesang ziehen wir aus den Studioversionen, einiges auch aus den wenigen Live-Dokumenten“ Der Start des virtuellen Bühnen-Comebacks sei für April nächsten Jahres angepeilt, so der kühle König des nordischen Pop-Songs. Dann der Nachsatz: „Sie werden denken, dass wir auf der Bühne stehen!“
Ein Pop-Waterloo
Die Geschichte des schwedischen Quartetts ist so faszinierend und unbegreiflich wie ihre Musik. Bis Mitte der 1970er-Kahre war Pop ein rein anglo-amerikanisches Phänomen. Es gab zwar den Schlager, sozusagen den gescheiterten Versuch Pop streberhaft einzudeutschen oder den französischen Chanson – aber die globale Strahlkraft dieser Genres war noch überschaubar. Dann kam der 6. April 1974 und die Karten wurden neu gemischt. Denn der 19. Eurovision Song Contest im englischen Seebad Brighton war der Startschuss für eine kontinentale Pop-Landnahme, die bis heute andauert. Vier Schweden in selbst für die damalige Zeit ulkigen Kostümen, bliesen der biederen Konkurrenz den sprichwörtlichen Marsch. ABBA injizierte der Schlafwagen-Veranstaltung eine abenteuerlich abgemischte Pop-Dosis und veränderte dadurch das paneuropäische Wettsingen für immer. „Waterloo“ startete wie die Iglu-Version eines Motown-Hits aus den 1960er-Jahren, bog dann abrupt ab und schaukelte sich in schwindelerregende Perfektion zu einem meisterhaften Ohrwurm hoch, aus dem zahlreiche kontinentaleuropäische Einflüsse rauszuhören waren. Das Publikum war begeistert. Einmal gehört, konnte man das Lied nie mehr nicht hören. „Waterloo“ war der Startschuss. In den kommenden acht Jahren eilte die Band weltweit von Erfolg zu Erfolg und entwickelte sich zum grössten Pop-Seller ihrer Zeit. Alle Hits aufzuzählen würde den Rahmen dieses Texts sprenge. Egal ob „SOS“, „Take A Chance On Me“, „Knowing Me, Knowing You“, „Souper Trouper“, „Chiquitita“ oder „Gimme! Gimme! Gimme! (A Man After Midnight)“: Wer die Best-Of-Platte „ABBA Gold“ von 1992 durchhört, wähnt sich knietief in Ohrwürmern.
Wenn die Königin tanzt
Einen einzigen Song hervorzuheben, fällt mir nicht leicht. Ich tue es trotzdem. „Dancing Queen“ von 1976 erklomm in 16 Ländern die Top-Position der Charts, darunter in Deutschland, in Grossbritannien und sogar in den USA. In der Schweiz schaffte es der Song überraschenderweise nur auf Platz 3. Und trotzdem: „Dancing Queen“ ist mit sechs Millionen verkauften Stück einer der meistverkauften Songs der 1970er-Jahre. Obendrein ist es einer der besten Popsongs aller Zeiten, vielleicht sogar der beste. Zu Beginn des Songs fährt eine Hand blitzschnell über die Klaviatur. In den drauffolgenden drei Minuten und neunundvierzig Sekunden werden keine Gefangenen gemacht. Was folgt ist die Essenz von Pop: Jugend und Euphorie im Hier und Jetzt. Die ungewöhnliche Akkordfolge, das Klavier, der Rhythmus und die engelsgleichen Stimmen der beiden Sängerinnen Agnetha Fältskog und Anni-Frid Lyngstad verschmelzen zu etwas rätselhaft Grossem. Was genau, ist schwer zu sagen. Vielleicht ist es dieser Hauch an nordischer Melancholie, der die unbändige Lebensfreude des Songs so unerwartet wie meisterhaft durchzieht. Der Text des Songs handelt von einem 17 Jahre alten Mädchen, das sich in einem Lied verliert und tanzt. Und tanzen ist das Stichwort: Wer „Dancing Queen“ schon einmal auf einer Party aufgelegt hat, der weiss: Selbst pathologische Tanzmuffel springen beim ersten Ton hoch, beginnen sich plötzlich ausgelassen zu bewegen und werfen spätestens beim Refrain theatralisch die Arme in die Luft. Sie können nicht anders. Die Magie von „Dancing Queen“ ist einfach zu stark. Es ist fast ein Naturgesetz. Widerstand ist zwecklos. Kann man etwas Schöneres über einen Song behaupten? Eben.
Kalt wie Eis
Zwecklos ist auch der Versuch, ABBA als seichte Pop-Unterhaltung abzutun. ABBA ist Erwachsenenmusik im besten und im traurigsten Sinne. Denn die band bestand aus zwei Ehepaaren. Benni und Agnetha waren verheiratet. Björn und Anni-Frid ebenso. Beide Beziehungen scheiterten am Höhepunkt der Karriere in aller gebotenen Hässlichkeit. Die Paare wurden unter breitem medialem Sperrfeuer geschieden, doch ABBA marschierte weiter. Zumindest für ein paar Jahre. Die Songs aus dieser Zeit gehören zum Besten, was die Band je gemacht hat. Kompromisslose Trennungs-Hymnen, in denen das schicksalhafte Absterben der Liebe aus einer scheinbar emotionslosen Distanz besungen wird. Oft wurde darüber spekuliert, ob die eisigen Texte von den beiden männlichen Songwritern geschrieben wurden, um die beiden Sängerinnen zu demütigen. Die Bandmitglieder haben das stets verneint. „The Winner Takes It All“ von 1980 klingt trotzdem tausendmal kälter als der ganze New Wave-Kokain-Chic der zeitgenössischen 80er-Jahre-Popmusik.
Zwölf Monate, zwölf Songs
Schon als sich ABBA 1982 auflösten, stand eine Frage im Raum: Wie lässt sich der Erfolg von ABBA erklären? Ja klar, die Songs waren fantastisch, aber die vier Band-Mitglieder hatten sich eigentlich so gar nicht als Jugendidole geeignet. Die beiden Frauen waren eher schüchterne Studio-Sängerinnen mit bedingtem Bühnen-Charisma. Und bei den beiden uncool frisierten Männern dachte man optisch eher an den zweiten grossen schwedischen Exportschlager der 1970er-Jahre, nämlich an unfreiwillig komische Erotikfilmchen. Auch gab es weder Drogen, noch Seitensprünge, noch sonstige medial verwertbare Skandale. Das Geheimnis von ABBA war ihre einzigartige Arbeitsweise. Während andere Bands nach Ende der Karriere ganze Studio-Räume voll unvollendeten Songs, Outtakes und sonstigem Kram hinterlassen, blieb bei ABBA nichts übrig, was für eine Zweit- oder Drittverwertung brauchbar gewesen wäre. Die Anomalie ABBA funktionierte anders. Die Band zog sich auf eine kleine Insel im Schärengarten vor Stockholm zurück und arbeitete dort in einer Hütte an genau zwölf Songs pro Jahr. Vor allem Benni und Björn tüftelten solange an jedem einzelnen Lied, bis es aus ihrer Sicht perfekt war. Nur die Effizienz zählt. Jeder Song wurde zu Ende gebracht. Aufgeben galt nicht. Koste es, was es wolle. Die Songs klangen dann auch immer so artifiziell, als würden auf merkwürdige Weise gar keine echte Menschen, ja nicht einmal echte Instrumente spielen. Bob Stanley, Sänger der britischen Band St. Etienne und selbst Pop-Journalist, beschrieb den ABBA-Sound mal so: „Er klingt wie aus einer Musicbox, die man aus Eis geschnitzt hat.“ Das ist durchaus als Kompliment zu verstehen. Denn genau dieser entrückte, euphorische, melancholische, künstliche Klang war damals in den 1970er-Jahren so fremd und rätselhaft wie heute. ABBA machte zeitlose Popmusik im wahrsten Sinne des Wortes. Popmusik, die auf seltsame Weise aus der Zeit gefallen war. Der Sound der schwedischen Pop-Sphinx war nie modern und wird darum auch nie veraltet klingen.
Eine schöne, neue Welt
Springen wir zum Abschluss noch einmal in die Zukunft, genauer in unsere Gegenwart. ABBA hat das Pop-Business schon einmal verändert. Zumindest stilistisch. Schaffen Sie es auf einer technischen Ebene noch einmal? Sollte die kommende Hologramm-Tour Schule machen, könnten es das Prinzip Live-Konzert bald grundlegend verändern. Manche würden auch sagen: pervertieren. Steht uns bald eine virtuelle Welttournee der Beatles in Haus? Feiert Elvis bald sein Comeback als Avatar? Kehrt selbst Hank Williams nach 70 Jahren zurück? Oder Buddy Holly? Eine Antwort auf diese Fragen ist einfach: Wenn es technisch möglich ist und es einen Markt dafür gibt, dann ja. Wer das jetzt traurig oder falsch findet, für den habe ich das perfekte Antidepressivum: Einfach zur Stereo-Anlage gehen, „Dancing Queen“ ein- oder auflegen und wieder glücklich werden.